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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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wird Ihnen nicht der Kopf abgerissen. Die Gläubiger arbeiten gern mit der Stiftung zusammen, weil sie garantiert, dass sie wenigstens einen Teil ihres Geldes zurückbekommen. Der Haken ist, dass wir eine Mehrheit unter den Gläubigern brauchen, die diesem Verfahren zustimmt. Und zwar eine sogenannte Kopf- und Kapitalmehrheit. Das bedeutet, dass einer mehr als die Hälfte Ihrer Gläubiger einverstanden sein muss. Bei zehn Gläubigern also sechs. Außerdem müssen diese sechs Gläubiger zusammen auf über fünfzig Prozent der Schuldensumme kommen. Kopf- und Kapitalmehrheit. Verstanden? Gut.
    Ich möchte, dass Sie jetzt nach Hause gehen und die Unterlagen zusammensuchen. Ich gebe Ihnen hier einen Haushaltsplan mit. Da können Sie jeden Monat jede Ihrer Ausgaben und jede Ihrer Einnahmen dokumentieren. Heben Sie jede Quittung auf, ob Sie jetzt Katzenfutter kaufen oder Dope im Görlitzer Park. Ich weiß, dass Sie auf Dope keine Quittung kriegen. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Ich möchte, dass Sie bei dieser Aufstellung sehr gewissenhaft und hundert Prozent ehrlich sind. Die ist nämlich nicht für mich und auch nicht für Ihre Gläubiger, sondern für Sie. Sie müssen genau wissen, wie viel von Ihrem Geld am Ende des Monats übrig ist, denn nur so können wir Ihre Schuldenquote ermitteln. Es nützt nämlich nichts, wenn wir mit der Alberts-Stiftung eine monatliche Rate von dreißig Euro aushandeln, wenn Sie diese dreißig Euro dann gar nicht bezahlen können. Logisch, oder? Von der Höhe der Quote hängt aber ab, wie viel Geld die Stiftung überhaupt zur Verfügung stellt, denn die Laufzeit des Darlehens beträgt immer achtundvierzig Monate, ob Sie sich nun hundert Euro oder zehntausend geliehen haben. Kopf- und Kapitalmehrheit, Sie erinnern sich. Sie können sich das so vorstellen, dass Ihre Gläubiger Aktionäre sind, und die überlegen sich ganz genau, ob sie ein lukratives Geschäft machen, wenn sie in Sie investieren. Wenn sie es tun, dann gehört denen von jetzt an zwei Jahre lang ein Anteil an Ihnen. Sozusagen Valerie-Brohm-Aktien. Sie müssen die Aktionäre überzeugen, Ihre Aktien zu kaufen. Also machen Sie sich bitte die Mühe.
    Noch was. Sie können das mit der Ratenzahlung jetzt schon üben. Legen Sie jeden Monat etwas von Ihrem Geld zur Seite. Sagen wir, für den Anfang zehn Euro. Die hängen Sie unter Ihren Badezimmerspiegel oder stecken sie ins Portemonnaie, egal. Irgendein Platz, wo Sie den Schein oft sehen. Damit können Sie üben, ihn nicht auszugeben. Psychologie, verstehen Sie?
    Und jetzt gehen Sie nach Hause und fangen an. Ja, bitte, gern geschehen. Ich weiß. Ich mag Sie auch. Nein, das müssen Sie nicht, das ist mein Beruf. Ja, ich finde Sie auch nett. Ich will nicht unhöflich sein, aber sehen Sie, was da auf meinem Schreibtisch liegt? Genau, das muss ich alles noch bearbeiten. Ich würde mich wirklich sehr gern von Ihnen zum Kaffee einladen lassen, aber erstens sollen Sie ein bisschen auf Ihre Ausgaben achten und zweitens muss ich jetzt schuften wie ein Ochse, ich bin ein gefragter Mann im Moment.
    Vor dem Nachbarhaus sitzt der Tätowierer auf der Stufe, raucht eine Zigarette und unterhält sich mit einem Kunden. Sonst grüßen sie sich immer, ohne viel miteinander zu sprechen, aber jetzt beachtet der Tätowierer sie gar nicht. Ihr ist nicht ganz klar, warum er mit nacktem Oberkörper da sitzt, aber dann fällt ihr auf, dass die Sonne herausgekommen ist, die erste Sonne, so scheint es, nach dem Winter. Und dass es schon längst nicht mehr März, sondern Anfang April ist. Und dass seit ihrem Rauswurf und der Sache mit Nils oder besser gesagt seit dem Ende der Sache mit Nils schon drei oder so Wochen vergangen sind. Und dass sie sich im Moment nicht erinnern kann, was sie in diesen drei oder so Wochen eigentlich gemacht hat. Dafür dreht sich der Drachenkopf auf der Brust des Tätowierers in ihre Richtung, kommt richtig heraus aus der Brust und stößt einen Feuerstrahl aus, und auch wenn sie weiß, dass das in gewisser Hinsicht nicht wirklich passiert – oder genauer, dass die Drachen-Wirklichkeit einfach anders beschriftet ist als zum Beispiel die Wetter-Wirklichkeit –, jagt es ihr extrem große Angst ein, dass es jetzt wieder so weit gekommen ist, dass Drachenköpfe Feuer auf sie spucken, und in diesem Moment weiß sie, dass sie beschließen muss, etwas zu unternehmen, am besten noch vor der nächsten Straßenecke sollte sie das beschließen, und, ganz am Rande vielleicht auch

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