Gibraltar
Stimme sagt: Renn weg, Valerie. Sie schlägt eine Hand vor ihren Mund, weil eine Stimme ihr rät, lieber die Hand vor den Mund zu schlagen: Da ist die Tür des WC , und sie spürt, wie ihr Herz diese riesige Menge Blut durch ihren Körper pumpt, und dann sieht sie es schon, bevor sie die Klinke drückt und die Tür aufstößt, diese riesige Menge Blut, mit der die Kacheln über der Badewanne besprenkelt sind, und ihr Stiefvater Bernhard liegt mit glasigen Augen in der Wanne, und er sieht sie direkt an, und er ist tot.
Der Arzt, zu dem sie geht, auch wenn sie Nils am Telefon sagt, dass es nicht wegen ihm schlimmer geworden ist, was zwar zum Teil stimmt, zum anderen Teil aber die viel wichtigere Frage aufwirft, warum sie nach allem, was passiert ist, überhaupt noch mit Nils telefoniert, der Arzt also sagt, dass sie im Moment eine Phase extremer Belastungen durchmacht. Was der Arzt damit meint, wenn er sagt, dass Valerie eine Phase extremer Belastungen durchmacht, ist wahrscheinlich Folgendes: Sie hat in kurzer Folge ihren Job verloren und dann ihren Freund, mit dem sie ein Jahr lang eine emotional sehr intensive Sache laufen hatte. Dann hat sie erfahren, dass dieser Freund, dem sie immerhin vertraut hat, sie in dieser Zeit permanent betrogen hat, und zwar nicht, wie das sonst üblich ist, mit anderen Frauen, sondern mit Valeries Geld. Ihr Freund hat nämlich in ihrem Namen Accounts bei eBay, Amazon, Hardwareschotte etc. eingerichtet und irgendwelches Zeug bestellt, als gäbe es kein Morgen. Auf diese Weise hat ihr Freund, ohne ihr auch nur den leisesten Ton darüber zu sagen, einen Schuldenberg von etwas über 20.000 Euro in ihrer Einzimmerwohnung aufgeschüttet. Das ist es, was der Arzt mit den extremen Belastungen meint. Er sagt auch, dass sich psychotische Episoden ganz gern solche Anlässe suchen würden, um wieder aufzutauchen, und dass die anderen Sachen, also die Bilder und falschen Beschriftungen, teilweise durch diesen Stress bedingt sind und dass er schon verstehe, dass ihr das Angst mache, dass er aber nicht denke, dass sie auf der Akuten bleiben müsse. Sie habe ja schon Erfahrung mit ihrer Krankheit, man könne die Olanzapin-Dosis heraufsetzen, und überhaupt sei die Akute im Moment total ausgebucht.
2
Und obwohl sie sich vor noch nicht allzu langer Zeit das Gegenteil geschworen hat, steht sie plötzlich in Frankfurt am Hauptbahnhof. Es gehen lauter Leute in Anzügen mit Rollkoffern an ihr vorbei, die Sorte Leute, die man in Berlin-Neukölln eher selten sieht, und sie fühlt sich auf eine ausgesprochen feindselige Art wieder zu Hause. Niemand sucht hier in den Mülleimern nach Pfandflaschen, die man verkaufen könnte, die Leute hier haben nämlich schon alles. Dafür gucken sie Valerie an, als wüssten sie, dass sie aus Berlin kommt, und als warteten sie darauf, dass sie jeden Moment anfängt, in den Mülleimern zu wühlen. Sie kennt diese Blicke. Irgendwas wissen die Leute über dich, Valerie, was du anscheinend nicht weißt, und passenderweise wird per Bahnhofslautsprecher durchgesagt: Wir wissen doch ganz genau, was du für eine bist, Valerie Brohm! , und natürlich kennt sie den Unterschied zwischen beschrifteter und unbeschrifteter Realität, aber manchmal ist er eben immer noch unklar. Sie spürt ihr Hemd am Rücken kleben, muss alle paar Sekunden ihre Brille hochschieben wegen Hitzewellen, die wiederum was mit ihrer Regel zu tun haben, die immer zum falschen Zeitpunkt kommt, dazu die schwere Tasche und überhaupt die Anstrengung, die es bedeutet, wieder hier zu sein und in die S-Bahn nach Bad Homburg zu steigen.
»Ich muss jetzt ein paar Tage hierbleiben«, sagt Valerie, als ihre Mutter die Haustür öffnet. Ihre Mutter macht auch zu Hause auf Grande Dame, komplett mit Perlenschmuck, Hermès-Carré und einem Haarband aus rotem Samt, was extrem unpassend rüberkommt.
»Hallo, Valerie, ich freue mich, dich zu sehen«, sagt sie und öffnet die Arme, und Valerie ist einigermaßen verwirrt.
»Habe ich dich angerufen? Wusstest du, dass ich komme?«
»Nein, Valerie, du hast mich nicht angerufen. Ich wusste nicht, dass du kommst. Aber es ist wundervoll, dass du jetzt da bist.«
Sie setzen sich in das große Wohnzimmer, und Valerie erklärt ihrer Mutter, dass alles ein bisschen schiefgelaufen ist in Berlin und sie im Moment Probleme hat und all diese Dinge, die man seiner Mutter so erzählt, wenn man sie schon besucht. Ihre Mutter sagt: »Valerie, du kannst jederzeit bei uns
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