Gibraltar
es und die Stimmen verschwinden tatsächlich, auch wenn es ziemlich wahrscheinlich ist, dass das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun hat, denn die Heizung ist überhaupt kein bisschen wärmer geworden.
Dann sitzt sie lange vor dem geöffneten Kühlschrank und hat irgendwann keine Ahnung mehr, warum. Sie kann sich auch nicht erinnern, was sie im Kühlschrank sucht oder gesucht hat, allerdings kombiniert sie, dass es sich um Nahrung handeln muss. Man öffnet den Kühlschrank in der Regel nur aus diesem einen Grund, es sei denn, man bewahrt Filmdosen darin auf, so wie sie. In ihrem Kühlschrank befindet sich gegenwärtig aber weder das eine noch das andere, nur dunkel verfärbte Spuren ehemaliger Lebensmittel, wie zum Beispiel Joghurt oder Tomatensauce.
Nach einer Zeit, die, gemessen am Ertrag ihrer Kühlschrankbesichtigung, viel zu lang ist – geradezu absurd lang –, schließt sie ihn und öffnet dafür den Küchenschrank. Jetzt versucht sie, mal darauf zu achten, was da passiert. Sie steht bloß so rum. Suchst du was, Valerie? Kann sein. Irgendwann kommt etwas bei ihr an, eine zerhackte Nachricht, fetzenweise, als würden Morsezeichen sie über einen alten Draht durch die Wüste erreichen, irgendwo von der fernen Küste her: eine Dose Kakao, Teebeutel, die zerkrümelten Reste einer Schachtel Knäckebrot, ein paar steinharte Lebkuchen aus der vorletzten Adventszeit. Zum Essen, also im Sinne einer Mahlzeit, reicht das nur bedingt, oder anders gesagt, eigentlich gar nicht.
Verkompliziert wird die ganze Angelegenheit dadurch, dass sie mit Nils eine Sache laufen hatte, von der sie nicht ganz genau weiß, was es für eine Sache war. Was sie zumindest über die Sache sagen kann, ist, dass es eine engere bis enge Sache war. Man muss sie vielleicht nicht mit dem B-Wort bezeichnen, die Sache, und das bedeutet, dass man sie wahrscheinlich auch nicht mit dem L-Wort bezeichnen darf, aber es ist andererseits auch nicht zwangsläufig eine mit dem F-Wort ausreichend zu beschreibende Sache. Überhaupt ist völlig unklar, bei wem die Definitionshoheit liegt. Wohl eher bei ihr, denkt sie oder hat sie zumindest bis vor Kurzem gedacht, weil Nils, der meistens eine Art gescheitelter Hitler-Frisur trägt, aber in ihren Augen trotzdem ein bisschen so aussieht, als müsste ihm mal jemand dicke Hafersuppe kochen, weil Nils also ein ziemlich stiller Typ ist. Außerdem macht er den Eindruck, als käme er noch weniger mit sich und seinem Leben zurecht, als sie es tut, was besonders daran liegt, dass er zwar Falbs Assistent ist, aber in Wirklichkeit gerne selbst der Künstler wäre. Und deswegen ist er immer so Ja, heute vielleicht , und dann im nächsten Moment Nee, heute vielleicht lieber doch nicht , und wenn er dann mal da ist, muss er gleich wieder weg, und wenn er weg ist, ruft er an und lamentiert, wie einsam er sich fühlt und so. Und du, Valerie, du machst das Spiel jedes Mal mit, weil du dich total schlecht abgrenzen kannst und irgendwie null Gefühl dafür hast, was jetzt gerade gut für dich ist und was nicht. Und das weiß sie alles, und trotzdem macht sie’s immer wieder, und so weiter. Deswegen fühlt sie sich wie ein Flummi, den Nils in der Gegend rumschmeißt, und redet sich so Sachen ein wie, dass sie hier die Definitionshoheit hat. Aber die hat sie natürlich überhaupt nicht, hörst du, Valerie, einen Scheiß hast du, was sich übrigens auch daran zeigt, dass Nils sie kürzlich angerufen und Schluss gemacht hat. Und zwar wirklich mit genau diesen Worten, Du, ich mach Schluss mit dir , so als wären sie sechzehn oder als würde er damit sagen, Du, ich komm heute zehn Minuten später zu dir.
Was er in Wahrheit damit sagt, ist aber ungefähr: Du, ich bring dich demnächst übrigens mal um . Andererseits bringt man sich ja wohl nur aus richtigem, wahnsinnigem Hass gegenseitig um. So, wie Nils am Telefon zu ihr gesagt hat: Du, ich mach Schluss mit dir , hört sich das aber überhaupt nicht nach Hass an, sondern total gelangweilt, und das Schlimme daran ist, denkt sie, während sie diesen scheiß Netto-Wein trinkt, von dem sie lieber die Finger lassen sollte, weil er sehr ungut mit ihren Pillen kreuzreagiert, das Schlimme ist, dass es wehtut wie nichts sonst, wenn man merkt, dass man einem nicht mal mehr so viel wert ist, dass er einen umbringen will. Und sie sitzt in ihrer total abgerockten Neuköllner Wohnung und fragt sich zum hundertsten Mal, was sie hier eigentlich macht, was sie sich
Weitere Kostenlose Bücher