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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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schlafen, das   weißt   du doch. Erzähl doch, wie ist es dir in Berlin ergangen?«
    Jedenfalls ist die Ausdrucksweise ihrer Mutter, denkt Valerie, nicht dazu geeignet, die ganze Sache (also ihre Situation und wie sie sich fühlt und all das) für sie realistischer zu gestalten, denn ihre Mutter redet, als würde sie in jeder Lebenslage die Hände vor dem Bauch falten wie eine evangelische Pastorin, und irgendwie hat Valerie ihrer Mutter diese gefalteten Hände in der Stimme noch nie abgenommen, und sie kriegt auch bei diesem   Wie ist es dir in Berlin ergangen   eine eiskalte Gänsehaut auf dem Rücken, zumal Valerie ja gerade ausführlich dargelegt hat, wie es ihr in Berlin ergangen ist. Ihre Mutter redet so gespreizt wie die Figuren in ihrem Buch, allerdings auch genauso unglaubwürdig, leider. Es ist kein Zufall und genau genommen schon eine Tradition, denkt Valerie, dass sie ein Glaubwürdigkeitsproblem mit ihrer Mutter hat. Aber ausgerechnet bei dem Buch ist das Glaubwürdigkeitsproblem offensichtlich, denn ihre Mutter behauptet darin unbeirrbar, dass es sich bei den Ereignissen, die darin geschildert werden und die selbst für jemanden wie Valerie ziemlich mühelos als hanebüchene Erfindungen oder allenfalls romantisch-sentimentale Idealisierungen zu erkennen sind, um ihre ureigene Biografie handelt, also zum Beispiel, dass sie und ihr Vater, der angeblich irgendein hochrangiger Waffenforscher war, von kommunistischen Geheimdiensten quer durch Europa gejagt wurden, weswegen sich die beiden die halbe Jugend ihrer Mutter unter falschem Namen in irgendwelchen deutschen Provinznestern vor irgendwelchen Auftragsmördern verstecken mussten. Was davon stimmt, ist ziemlich hundertprozentig das mit den Provinznestern und sonst nichts, das Buch ist quasi die Mutter aller falschen Beschriftungen, und was somit davon übrig bleibt, wenn man den ganzen Bio-Fake rausrechnet, ist eine reichlich kitschige Coming-of-Age-Schmonzette, an manchen Stellen ganz unterhaltsam, aber mehr eben auch nicht.
    »Hast du deine Medikamente abgesetzt, Valerie?«
    »Nein, wie kommst du, ich hab meine Medikamente –«
    »Du bist so fahrig, Valerie, geht es dir nicht gut?«
    »Mein Gott, ich hab doch gerade   gesagt , dass es mir nicht gutgeht, ich bin den ganzen Weg mit der schweren Tasche, hörst du mir nicht zu, oder was?«
    »Entschuldige, Valerie, ich möchte mich nicht mit dir –«
    »Ey und kannst du mit diesem   Valerie   aufhören, sorry? Ja?«
    Ihr altes Zimmer ist jetzt ein Gästezimmer, aber das ist nicht schlimm, sie ist ja hier längst nicht mehr zu Hause, aus freien Stücken nicht, obwohl es auch durchaus sein kann, dass Bernhard sie rausgeekelt hat, so genau weiß sie das nicht mehr, denn Bernhard war, zumindest als er noch gelebt hat, ein ziemliches Arschloch. Es steht ein Bett in dem Zimmer, es ist hübsch eingerichtet, das Fenster ist gekippt und lässt ein bisschen von der angenehmen Nachmittagsluft herein, und sie ist todmüde und lässt sich auf das Bett fallen, und dann ist es draußen dunkel und sie wieder wach, es ist 23 Uhr am Abend, und sie ist vollkommen verschwitzt und desorientiert, weil sie ungefähr jeden beschissenen Traum, den man überhaupt haben kann,   gleichzeitig   gehabt hat: Wie sie mit Bernhard Monopoly spielt und völlig anstrengungslos eine Straße nach der anderen bekommt und Häuser darauf baut und Bernhard ständig auf ihre Straßen gerät und so viel Miete zahlen muss, dass er bald pleite ist, und wie er darüber so wütend wird, dass er anfängt, sich über sie lustig zu machen, zum Beispiel in einem Schwimmbad, wo sie in Wirklichkeit niemals zusammen gewesen sind, wo Bernhard aber auf ein ungefähr gleichaltes Mädchen zeigt und so laut, dass es jeder mitbekommen kann, sagt, dass die da mit den fettigen Haaren das ja auch ganz gut hinkriegt mit der Pubertät, und wie sie vor Scham im Boden versinken will und alle sie anstarren und dann ein paar kleine Türkenjungs ankommen und anfangen, sie anzufassen und versuchen, ihr die Badesachen auszuziehen, und Bernhard steht mit verschränkten Armen daneben und lächelt eklig, und dann hat sie plötzlich beim Monopoly alles verloren, und sie kommt immer wieder auf die einzige Straße, die ihre Mutter gekauft hat, nämlich die Schlossallee mit vier Hotels drauf, obwohl das gar nicht geht, und Valerie muss bei jeder Runde Tausende von Euros bezahlen, und ihre Mutter und Bernhard lachen sich halbtot darüber. Und dann sitzt sie plötzlich auf

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