Gibraltar
vor zwei Jahren konkret dabei gedacht hat, hierherzukommen, warum alles seitdem so dermaßen im Treibsand steckt, und warum sie nicht einfach so sein kann wie die anderen, die zwar auch alle Probleme haben, sich aber dabei irgendwie viel cooler benehmen als sie.
Die Frau vom Jobcenter macht ihr Angst. Sie ist eine Liliputanerin, die man ja seit Neuestem Kleinwüchsige nennen soll, genauso wie man die Schwulen und Lesben und Neger jetzt bei ihren Schimpfnamen anreden soll, was aber alles nur wieder darauf hinausläuft, dass sie wirklich extrem klein ist, die Frau vom Jobcenter. Und während die anderen in der Schlange alle auf ihren iPhones rumtippen, als würden sie Protokoll über Valerie führen, sagt die extrem kleine Jobcenter-Frau mit unnatürlich tiefer Stimme, dass Valerie mit den Anträgen zwei Tage zu spät dran ist, und dann schmeißt sie ein Sicherheitsmann raus. Was dazwischen passiert ist, lässt sie sich später, als sie wieder in ihrer Bude sitzt und heult, so erzählen, dass sie nur darauf hingewiesen hat, dass die Verspätung nicht ihre Schuld ist. Sie war nämlich schon gestern beim Jobcenter und vorgestern auch, ist da aber nicht drangekommen, weil zu viele Kunden da waren und die normalgroßen Jobcenterleute das nicht auf die Reihe gekriegt haben. Man kann mit den Leuten nicht alles machen. So ist es, Valerie, aber heulen musst du trotzdem, und am nächsten Tag wieder hingehen und dich entschuldigen musst du auch, weil: Du willst ja was von denen, brauchst bloß mal in den Kühlschrank zu gucken.
Seit neuestem ist fast schon wieder Sommer. Unten vor dem Haus fangen die Obdachlosen an, auf ihrer Bank vor dem Spielplatz herumzuhängen, und weil der Hausbesitzer zu geizig ist, das Türschloss auszutauschen, das irgendjemand mit Sekundenkleber zugeklebt hat, vermutlich, weil dieser Jemand immer hinter die Mülltonnen pinkelt und dabei die Blumen zertrampelt – weil also die Haustür sich nicht mehr zusperren lässt, hat sie immer Angst, einem von ihnen im Durchgang oder im Treppenhaus zu begegnen, denn es kommt ihr so vor, als würden diese Leute immer extrem bedrohliche und abstoßende Sachen zu ihr sagen, zum Beispiel: Ich will, dass du dich bis auf die Unterhose nackig machst. Gestern ist aus der Erdgeschosswohnung im Hinterhaus, wo die Penner früher gehaust haben und wo sie jetzt nicht mehr hinkommen, weil der Pflegedienst dort ein Sterbezimmer eingerichtet hat für Herrn Mölder oder Moldau, der dadrin an Leberzirrhose stirbt, da hat also plötzlich der Penner neben ihr im Durchgang gestanden und sie angeraunzt: Kannst du dir nicht mal die Haare waschen, Mädchen , aber sie hat dann extra in der Glasscheibe der Haustür nachgesehen und festgestellt, dass ihre Haare tipptopp in Ordnung sind, Dreads halt, aber jetzt ist sie vollkommen verunsichert, unter die Leute zu gehen, weil sie ja vielleicht wirklich total ekelhaft aussieht. Und als sie jedenfalls rausgeht und stolpert, weil auf dem Bürgersteig die ganzen Pflastersteine locker sind und einige sogar fehlen, ist sie plötzlich ziemlich sicher, dass es nicht die Obdachlosen sind, die mit ihr sprechen, sondern dass das Problem ganz einfach ist, dass es wieder angefangen hat. Und sie bekommt augenblicklich ungeheure Panik und hat das Gefühl, sie müsste dringend auf die andere Straßenseite gehen und sich in dem Späti einen Kaffee im Pappbecher holen, so einen mit Deckel drauf, weil man mit einem solchen Becher Kaffee, mit dem man zielstrebig durch die Straße irgendwohin geht, wie eine richtige Erwachsene ohne irgendwelche Tätowierungen und Probleme aussieht. Wenn sie den Becher Kaffee kaufen würde, dann würde sie sich viel besser und sicherer fühlen, denn sie würde dann von den anderen Menschen endlich ernst genommen werden, weil der Becher Kaffee den anderen Menschen signalisieren würde, dass sie keine Zeit hat, ihren Kaffee im Sitzen zu trinken, und zwar wegen ihrer wahnsinnig wichtigen Arbeit, wo sich alle darauf verlassen, dass sie zuverlässig und pünktlich erscheint, damit die schwierigen Probleme, die sie da haben, von ihr, Valerie, gelöst werden können, und deswegen verdient Valerie mit dieser Arbeit auch so viel Geld, dass sie sich einen Kaffee im Pappbecher problemlos leisten kann, sogar mehrmals täglich, wenn sie das will. Aber das Problem ist natürlich, dass sie sich den Kaffee, ob jetzt mit oder ohne Pappbecher, in Wirklichkeit überhaupt nicht leisten kann und ihn eigentlich auch
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