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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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herausfinden, wohin zum Teufel sie überhaupt geht.
    Sie wacht auf. Sie hat geschlafen. Das Merkwürdige ist: Sie ist nicht zu Hause. Sie sitzt in einem Büro. Sie kennt das Büro. Vielleicht nicht genau das, aber doch solche, die so ähnlich sind. Ihr Kopf liegt auf ihren Armen auf dem Tisch, irgendetwas summt oder brummt. Was ist geschehen? Sie kann sich nicht erinnern. Vor ihr auf dem Tisch, der ansonsten leer ist, liegt ein Gürtel. Er windet sich wie eine Schlange. Am Ende des Tisches steht ein Drucker. Er spuckt bedrucktes Papier aus, in schneller Folge. Irgendjemand müsste hier sein, doch das Büro ist leer; sie spürt, dass es leer ist. Zur Sicherheit sieht sie sich um: ein verschlossener Aktenschrank, ein Bürosessel, ein Regal. Die Lamellen vor dem Fenster sind geschlossen, die Schreibtischleuchte brennt. Irgendjemand außer ihr müsste hier sein, doch sie ist allein, allein. Sie steht auf, ihre Beine sind wie aus Gummi. Bist du dir sicher, Valerie, dass du zu Hause bist? Nein, natürlich nicht, das hier ist ein Büro. Wie in einer Bank. Sie nimmt das letzte gedruckte Blatt, der Drucker hakt, das Papier ist alle. Eine eng bedruckte Seite. Ihr Blick fällt sofort auf ihren Namen: Valerie Brohm. Der Name taucht fünfmal auf der Seite auf, immer ausgeschrieben. Die Seite ist Teil eines Dokuments, vielleicht einer Lebensversicherung, oder eher einer Anklageschrift, der Stil ist juristisch: Ob die Mandantin zurechnungsfähig ist, kann zu diesem Zeitpunkt nicht zweifelsfrei geklärt werden. Es wurden zur Klärung dieses Sachverhalts bisher drei verschiedene Gutachten eingeholt, darunter Namen und Anschriften. Sie springt zum nächsten Absatz, der wieder mit ihrem vollen Namen beginnt: Valerie Brohm hat am 21. dieses Monats ihren Stiefvater in dessen Büro aufgesucht. Alles deutet darauf hin, dass es im Verlauf des Gesprächs zum Streit zwischen beiden Personen kam; wer mit dem Streit anfing, ist nicht mehr zu rekonstruieren.
    Sie hört ein Geräusch, es ist die Tür des Büros, die nur angelehnt ist. Die Tür hat sich bewegt. Sie steht auf, öffnet die Tür ganz: nichts als ein leerer Flur.
    Da Valerie Brohm ihren Stiefvater außerhalb der Geschäftszeiten des Büros aufgesucht hat, war zur Tatzeit niemand zugegen. Alle diesbezüglichen Annahmen über den Hergang müssen sich somit auf Indizien stützen. Wie Herr Milbrandt in das Badezimmer gelangt ist, das auf derselben Etage liegt wie das Büro, kann nur vermutet werden. Da Frau Brohm bei einer Größe von 1,59 Metern und einem Gewicht von 51 Kilogramm ihren Stiefvater, der ein Gewicht von 85 Kilogramm aufweist, kaum getragen haben kann, ist davon auszugehen, dass sich Herr Milbrandt freiwillig in das Badezimmer begab, möglicherweise, um sich zu erfrischen oder zur Toilette zu gehen. Die Tatwaffe, eine Schere, die ihren Platz gewöhnlich auf Herrn Milbrandts Schreibtisch hat, wird nicht von Herrn Milbrandt selbst in diese Räumlichkeit verbracht worden sein; hierfür fehlen alle Anhaltspunkte, alle Anhaltspunkte, alle Anhaltspunkte.
    Die Tür hat sich wieder bewegt, was gespenstisch ist, unheimlich, Valerie, denn hier ist niemand außer dir, du bist allein. Du bist nicht allein, hört sie eine Stimme dicht neben sich, und sie weiß, dass sie nicht real ist. Es ist eine   Stimme , Valerie, es sind die Aktionäre. Sie liest weiter, es sind nur noch zwei Zeilen auf dieser Seite: Somit kann davon ausgegangen werden, dass Valerie Brohm, nachdem sie die Schere an sich nahm, ihrem Stiefvater in das Badezimmer gefolgt ist und
    Sie blättert um, aber da ist keine Seite mehr; die nächste Seite steckt im Drucker fest, beziehungsweise es ist kein Papier mehr da für eine nächste Seite, der Text ist zu Ende, Valerie. Der Text ist zu Ende.
    Das Badezimmer ist da vorne links. Nur ein wenig den Gang entlang. Ihr Atem geht flach, viel zu flach für die Menge an Blut, die ihr Herz durch ihren Körper pumpt. Was ist hier los, was ist hier los, sie fragt sich immer wieder dieselbe Frage, wie ein Mantra: Was ist hier los, Valerie?
    Sie geht den Flur entlang, der fensterlos und dunkel ist; alle anderen Türen sind geschlossen. Sie erkennt die Bilder an den Wänden, einige von Falb sind darunter, auch wenn sie nicht versteht, warum sie hier hängen. Das   WC   ist mit einem rechteckigen weißen Zettel gekennzeichnet, eingefasst hinter Plexiglas: » WC « steht darauf. Aber sie zweifelt daran, dass das richtig beschriftet ist. Einen Moment lang will sie wegrennen, und eine

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