Gibraltar
keinerlei Hämatome oder Frakturen festgestellt werden konnten, ist Manuels Versterben mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf den Fall, sondern auf einen plötzlichen Säuglingstod (Sudden Infant Death Syndrome, SIDS ) zurückzuführen. Ein Verschulden Valeries wäre demnach unwahrscheinlich. Allerdings ist dies eine reine Ausschlussdiagnose. Letzte Sicherheit über die Todesursache ist darüber nicht zu gewinnen.
In Deutschland reden sie dann nicht mehr viel, auch im Elsass nicht. Im Elsass halten sie nur an einer Tankstelle, um Hundefutter für Sol Moscot zu kaufen und Kaffee für die Menschen. Auf der Holzbank des Rastplatzes machen sie ein komisches Picknick. Autos mit Segelbooten auf Anhängern parken und fahren wieder weg, Motorradfahrer, Busse voller Rentner oder Eishockeyvereine. Sie denkt, dass es für all das eine Lösung geben muss, und dann, dass Leute wie Thomas, die sich für Spezialagenten mit Lizenz zum Heilen halten, davon überzeugt sind, dass es nie nur die eine Lösung gibt, sondern ganz viele Lösungen , und vielleicht stimmt das ja auch. Nur hat sie irgendwie schon immer das Gefühl gehabt, als würden die Leute, die das behaupten, selbst nicht daran glauben, weil sie nämlich meistens nicht mal eine einzige Lösung finden.
»Ist es deswegen?«, fragt sie, als sie schon in der Nähe von Paris sind.
»Was? Weswegen?«
»Dass du mich nicht ernst nimmst.«
»Aber ich nehme dich ernst, Valerie, wer sagt denn –«
»Warum kann ich dir dann bestimmte Sachen nicht erzählen? Weil du glaubst, du wärst schuld?«
»Nein. Woran sollte ich denn schuld sein?«
»Weil, warum soll es überhaupt was mit dir zu tun haben? Warum soll es dabei überhaupt um dich gegangen sein?«
»Valerie, ich kann dir nicht folgen. Das geht mir schon die ganze Zeit so.«
Es tut ihr weh, mit Thomas zu streiten, auch wenn es vielleicht gar kein richtiger Streit ist. Aber dass sie am ausgestreckten Arm gehalten wird, wie ein Kind, das versucht, den Erwachsenen zu erreichen, wütender und immer wütender, je mehr es merkt, dass die Schläge ins Leere gehen und immer nur ins Leere gehen können , weil Erwachsene nun mal die längeren Arme haben, das tut auch weh. Es ist vielleicht an ihr, es zu beweisen: dass sie die Wahrheit vertragen kann, auch wenn sie ihr Gegenteil für genauso glaubwürdig hält.
»Aber dass du über manche Sachen nicht mit mir sprichst, weil ich nicht normal bin –«
»Na ja, was ist schon normal«, sagt da Thomas.
»Wieso sagen eigentlich alle Psychiater und Irrenärzte immer diesen Satz, und das auch noch in so einem Ton, als wäre es wirklich total albern , von so was wie Normalität zu reden, und gleichzeitig sind aber alle felsenfest davon überzeugt , dass hier das Festland ist und da das Wasser.«
Und in diesem Moment durchzuckt es sie, als hätte irgendwas Elektrisches sie berührt, und sie redet weiter: »Das stimmt aber gar nicht, es gibt nämlich überall Wasser, im Boden, in den Pflanzen, in den Menschen, man sieht es nur nicht. Im Meer gibt es Inseln, sogar ganze Gebirge gibt es unter Wasser. Ich sehe Dinge, die andere nur im Traum sehen.«
»Aber du hältst sie für real.«
»Hast du noch nie einen realen Traum gehabt?« Aber das ist nicht die Frage, die sie eigentlich stellen will; sie will überhaupt keine Frage stellen oder auch nur etwas sagen, das sich in Wörtern formulieren lässt. Während Thomas rührend darauf achtet, bestimmte Wörter zu vermeiden, wie zum Beispiel »krank«, »schizophren« oder »Halluzination«, wächst in ihr eine Idee, nämlich, dass sie es ihm nicht erklären kann, ganz einfach deshalb, weil es bisher noch nie funktioniert hat, irgendjemandem etwas zu erklären, und dass sie ihm die Unzulänglichkeit seiner Annahme nur zeigen kann. Und sie ist aufgeregt wie ein Kind, als sie daran denkt, was dieses Zeigen alles umfassen würde, und dass sie es damit nicht nur schaffen würde, sich ihm verständlich zu machen, sondern auch seine übervorsichtige Rücksicht oder vielmehr Herablassung loszuwerden, die auf der Annahme gründet, er habe irgendeine alberne Krankheit von ihr falsch behandelt . Letztlich, denkt sie aufgeregt, könnte sie ihm damit alles, alles zeigen: Die Tatsache, dass man von etwas überzeugt sein kann und zugleich irgendwo das Wissen oder die Hoffnung hat, dass es ganz anders ist, wie wenn Thomas sein Smartphone vor den Eiffelturm hielte, und dann stünde da Big
Weitere Kostenlose Bücher