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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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gesagt, dass dir alles helfen kann, woran du positive Erinnerungen hast, am besten aus deiner Kindheit. Und die Moldau habt ihr ein halbes Jahr lang durchgekaut, Note für Note, und weil Herr Herbert, der sich von euch siezen, aber dafür mit Vornamen anreden ließ, das Stück offensichtlich geliebt hat, hast du es auch lieben gelernt. Lieben ist vielleicht ein bisschen viel gesagt. Zumindest fängt das Stück von selbst zu spielen an, wenn du mal dringend aus dir raus musst. Dann hörst du die fließenden, auf- und absteigenden Figuren des Quellflusses. Das Tolle daran ist: Es ist nicht nur einer. Denn sofort kommt ein zweiter dazu, der eine ähnliche Melodie spielt, bloß anders. Das ist sehr tröstlich, kaltes Wasser und warmes Wasser. Manchmal, wenn die Flöten schnell spielen und sich fast ein bisschen zanken, kann man förmlich die Bachkiesel sehen, wo das Wasser rüber muss und sich drum herum kräuselt. So geht das eine Weile, bis plötzlich die Streicher das Gezanke aufnehmen und blitzschnell in das berühmte Moldau-Thema verwandeln. Nämlich: Der Fluss ist geboren. Und er schlägt schon gleich große Wellen, sein Lebensthema, wenn auch in Moll. Es ist wunderschön. Traurig, sehnsuchtsvoll, wunderschön. Herr Herbert hat es im Klassenzimmer auf dem Klavier gespielt und Takt für Takt erklärt, wo sie sich da gerade auf Böhmens Landkarte befinden. Hat sie eigentlich je wieder so einen begeisterten Lehrer gehabt? Sie kann sich sogar noch an das Knistern der Platte erinnern, wenn er den Tonarm aufgelegt hat. Nicht alle Kinder aus ihrer Klasse teilten ihre Begeisterung, es gab einige, die regelmäßig wegpennten in Musik. Aber die Moldau in Moll: Da kann man doch nicht pennen, denkt sie. Es ist ein dickes Motiv, keine Frage, viel Pomp, die Erhabenheit großer Gefühle, aber mein Gott, denkt sie, warum nicht ein bisschen Pomp.
    Manches, wie die Jagd, samt röhrenden Hirschen und Waldhörnern, ist nicht ihr Ding. Schon eher die Polka. Die Moldau kommt nämlich einmal an einem Dorf vorbei, wo Hochzeit gefeiert wird. Die Frauen tragen diese traditionelle bunte Kleidung mit diesen großen gestickten Ohrenwärmern, die Männer weiße Hemden, und am Ufer steht eine lange Tafel. Es wird gegessen und getrunken, daneben spielt eine kleine Kapelle: eben Polka. Das ist extrem lebensbejahend, dauert aber leider nur kurz, wie im richtigen Leben. Und auch die verträumte Nacht ist im Vergleich zum Morgen danach, als das Moldau-Thema in Dur und damit irgendwie großspuriger daherkommt, viel zu rasch um. Und schon ist man in Prag. Das Schlussthema erklingt. Jetzt, nachdem man den Fluss in allem kennengelernt hat, was er sein kann, ist die Musik nicht mehr angeberhaft und selbstgefällig, sondern verdientermaßen stolz. Die Moldau weiß jetzt, was sie ist. Der Fluss hört nicht auf, er verwandelt sich nur, fließt irgendwann ins Meer, verdunstet und wird über Böhmen wieder abregnen, und diesen Gedanken empfindet sie als das Tröstlichste, was man überhaupt denken kann, tausend Kilometer lang, während der Fluss der Autostrada sie ebenfalls dem Meer entgegenträgt.

5
    Das Hotelzimmer ist nicht besonders komfortabel, aber in viel besserem Zustand als ihre Wohnung. Der Himmel draußen ist bewölkt, Valerie reibt sich die Haare trocken und legt sich aufs Bett, um sich auszuruhen von der Fahrt und der ganzen Streiterei. Thomas, der gerade damit beschäftigt ist, Socken in die Schublade der Kommode zu legen, dreht sich zu ihr um. Licht fällt auf sein Gesicht, und da es spanisches Licht ist, wirkt es jung und glatt, auf eine anziehende Weise fremd. Er lächelt zutraulich. Die Frage kommt ihr ganz selbstverständlich in den Sinn, zum einen, weil sie Lust hat, zum anderen, weil plötzlich ihr Hiersein nur einen einzigen Grund zu haben scheint, nämlich den Grund, dass sie   mit ihm   hier ist. Weit weg von zu Hause, wo immer das ist. Es ist doch so selbstverständlich, sich nah sein zu wollen, wenn man sich mag, dass Valerie überhaupt keinen Grund sieht, ihn nicht zu fragen.
    »Warum willst du nicht mit mir schlafen?«
    »Valerie«, sagt er und räumt weiter Socken in die Kommode. So viele Socken, wie er einräumt, kann er gar nicht mitgenommen haben. Vielleicht nimmt er sie auch, nachdem er sie eingeräumt hat, heimlich wieder heraus, nur um einen Grund zu haben, nicht mit ihr zu schlafen.
    »Und was soll das jetzt heißen?«
    »Hast du deine Tabletten genommen?«
    »Ja, Doktor Alberts. Nein, Doktor Alberts.« Thomas hebt

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