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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Ben, offizielle Bezeichnung The Clock Tower, Höhe 96,3 Meter , obwohl   jeder sehen kann , dass der Eiffelturm nicht der Big Ben ist und dass nun entweder die eigenen Augen oder die offizielle Beschriftung unrecht haben müssen, oder aber beide.
    Und während sie weiter durch Frankreich fahren, während sie sich anschweigen und stumm ihre abgepackten Sandwiches kauen und Sol Moscot französische Autos bepinkelt, wird dieser Drang, diese   Vision , in ihr immer stärker, unbändig, urgewaltig. Sie bricht mit Macht und Gewalt in ihr Denken und breitet sich explosionsartig aus und ist nicht mehr wegzudenken: wie die Dünung über den Sand und die angebrandeten Muscheln und über ihre Füße hinwegstreicht, ein dünner Film Wasser, ein Bild, das ohne ein Wort von allem erzählt.
    »Place,   Valerie , nicht Plage!  – «
    Sie liegen gemeinsam in der Dunkelheit. Draußen dämmert der Morgen. Beziehungsweise: Sie spürt, dass er bald dämmern wird, noch ist allerdings nichts davon zu sehen. Sie schläft nicht; Thomas, auf dem Boden liegend, tut es ebenso wenig. Ihre Wut ist verflogen, die Stille zwischen ihnen ist nichts anderes als ein abgestandener Ärger, der schon zur leeren Gewohnheit geworden ist.   Du hast wirklich kein Recht gehabt, Thomas herumzukommandieren, Valerie , hört sie, oder:   Du musst dich bei ihm entschuldigen, Valerie . Es sind nicht die Stimmen der Aktionäre. Es ist nur eine einzige, und sie kommt ihr vertraut vor, fast wie ihre eigene. Und tatsächlich, denkt sie, während sie sich auf die andere Seite dreht und an Thomas’ Atem hört, dass er jede ihrer Bewegungen registriert, das kommt daher, dass es wirklich deine eigene Stimme   ist .   Kannst du das? Kannst du dich entschuldigen? Es ist nicht schwer.
    »Bitte entschuldige.« Sie ist fast so weit gewesen, sie hat bereits den Mund geöffnet – aber jetzt ist nicht sie es, die das sagt, sondern Thomas. Er hat sich dort unten am Boden halb aufgerichtet. Durch den Spalt des Vorhangs ist das bläuliche Schimmern des Morgens zu erkennen. Ein Auto fährt vorbei.
    »Aber   ich   wollte mich entschuldigen«, sagt Valerie.
    »Nein,   ich   wollte mich entschuldigen«, sagt jetzt wieder Thomas, und sie steigt auf das Spiel ein: »Nein,   ich   wollte mich entschuldigen«, und irgendwann, nach der hundertsten Wiederholung, ist sie es, die es zum letzten Mal sagt. Und weil es jetzt irgendwie gar nicht mehr geht, Thomas da unten auf dem Boden liegen zu lassen, wo doch das Bett breit genug ist, sagt sie: »Das Bett ist breit genug.«
    Und er: »Ich weiß nicht.«
    »Was weißt du nicht? Ich bin erwachsen, du wirst ja nicht automatisch über mich herfallen, nur weil wir zusammen im Bett liegen.«
    Er überlegt eine Weile, und dann sagt er doch tatsächlich: »Nein. Aber du über mich, vielleicht.« Und als sie schon drauf und dran ist, etwas Empörtes zurückzufeuern, sinngemäß, wofür sich Thomas denn halte und so weiter, kommt bei ihr an, dass es nur ein   Spaß   gewesen ist, ein Spaß, den sie ihm gar nicht zugetraut hätte, und sie lachen darüber, und dann liegen sie nebeneinander auf dem Rücken und können zusammen nicht einschlafen.
    »Viel bequemer«, sagt Thomas.
    »Sag ich doch.«
    Er dreht den Kopf zu ihr und sieht sie an, ernst. »Ich habe kein Recht, dir irgendetwas zu verbieten.«
    »Nein«, sagt sie. »Hast du nicht.«
    Sie könnten zwei, vielleicht noch drei Stunden schlafen, bevor sie weiterfahren müssen. Zum ersten Mal hat sie das Gefühl, als begriffe sie, worum es geht; als begriffe sie den   Sinn   dieser ganzen Veranstaltung. Dass es um sie geht, um niemanden als um sie; dass Thomas ihr helfen will.
    »Ich bin froh, dass du da bist«, sagt sie.
    Er streichelt ihr über den Kopf. »Schlaf jetzt.«
    Die Fahrt durch Spanien ist ein einziger langer Gedanke, wie ein Fluss. Die Fahrt durch Spanien geht eine einzige lange Autobahn hinunter, über Hunderte von Kilometern, einen ganzen Tag und die halbe Nacht lang. Die ganze Zeit über denkt sie an die Moldau.
    Smetanas Moldau, die später zu einem großen, mächtigen Thema wird, beginnt mit einer ganz lieblichen Flötenmelodie. Das ist der Quellfluss. Der Quellfluss entspringt irgendwo in Böhmen, wo sie im Gegensatz zu ihrer Mutter noch nie gewesen ist. Ihre Mutter hat zum Thema Böhmen einiges zu sagen, und sie tut es auch gelegentlich. Wobei du dich jetzt nicht auf deine Mutter, sondern auf die Moldau konzentrieren willst, Valerie, denn die auf der Akuten haben

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