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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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irgendetwas lachte, und die Polizisten nickten oft und sagten: »Ja, natürlich«, und irgendwann verabschiedeten sie sich freundlich und gingen wieder, und Valerie erinnert sich, dass sie für eine klitzekleine Sekunde enttäuscht darüber war und dann gleich im nächsten Moment furchtbar erschreckt über diese Enttäuschung, wo sie doch in Wirklichkeit   froh   darüber war, dass die Polizisten ihre Mutter nicht mitgenommen hatten, und dann kochte ihre Mutter das Abendessen, und von da an war Valerie nie wieder in den Kindergarten gegangen.
    Und weil Thomas ihr zuhört, möchte sie noch mehr erzählen, es ist nämlich nicht so, dass ihr solche Geschichten nur zu ihrer Mutter einfallen, ganz im Gegenteil, es gibt ja auch noch Bernhard, der in ihrer Pubertät zu ihrer kleinen Familie dazugestoßen ist, nachdem ihre Mutter sonst niemand haben wollte. Aber genau in dem Moment, als sie anfängt, von Bernhard zu erzählen, setzt Thomas seine Sonnenbrille auf und sagt: »Valerie, ich glaube nicht, dass wir jetzt noch weiter über diese Dinge sprechen sollten,   das geht jetzt in so eine Problemtrance rein .«
    Da sie diesen Therapeutensalbader nicht leiden kann, sagt sie, dass sie aber   gerne   darüber sprechen würde, denn »mir geht es besser, seit wir unterwegs sind, ich kann darüber sprechen, und es ist wichtig jetzt, glaube ich«.
    »Wofür ist es denn wichtig?«
    Sie versteht die Frage nicht und fragt zurück: »Wofür die Frage wichtig ist?« Und sie merkt, dass Thomas plötzlich sehr verschlossen ist, eine Weile schweigt er, das Motorengeräusch wummert durch ihren Kopf und prallt von den Innenseiten ihrer Schläfen zurück und zurück und zurück, und schließlich druckst er herum: »Siehst du, ich kann solche Gespräche nicht mit dir führen.«
    »Was denn für Gespräche?«
    »Na, was du mir von deinen Eltern erzählst. Diese Art von … therapeutischen Gesprächen.«
    »Was soll denn daran therapeutisch sein?«
    »Das weißt du genau.«
    »Ich weiß gar nichts genau, das ist ja gerade die Scheiße.«
    »Ich will das jetzt nicht diskutieren, Valerie, ich halte es einfach für falsch, wenn du mir zu viel erzählst.«
    »Und worüber sollen wir dann reden? Soll ich dir erzählen, was die Leute in meinem Kopf so sagen?«
    »Du kannst mir erzählen, was du willst.«
    »Kann ich   nicht , hast du doch gerade eben selbst gesagt.«
    »Ich bitte dich nur zu verstehen, dass bestimmte Themen deinen Zustand nicht unbedingt verbessern.«
    »Was denn für einen Zustand?«
    »Ach, komm jetzt, Valerie –«
    »Bin ich schwanger? Hysterisch? Schwachsinnig?«
    »Du hörst Stimmen. Du siehst Dinge, die nicht da sind. Das ist vollkommen in Ordnung, solange du damit umgehen kannst, aber –«
    Und seine Stimme wird leiser und leiser, verliert sich unter dem einschläfernden Brummen des Wagens, und sie hat das Gefühl, als   verschwinde   sie aus dem Wagen, unaufhaltsam, wie sie schon einmal fast verschwunden wäre, als mit dem Blut, das aus ihr herausfloss, auch ihr Bewusstsein herausgeschwemmt wurde und sie in dunklem Wasser trieb, kalt, aber kälteunempfindlich. Sie schüttelt den Kopf und schreckt hoch und stößt sich den Kopf am Dach.
    »Alles klar?«
    »Wir müssen anhalten.«
    »Ja. Gleich. Sol Moscot muss auch mal raus.«
    »Nicht gleich. Jetzt, sofort.«
    »Wir sind auf einer Autobahn, Valerie, ich kann hier schlecht –«
    »Ich muss hier raus, bitte«, jetzt ist ihre Stimme deutlich lauter als das Röhren des Motors, der Hund hinter ihr bewegt sich, und sie weiß aus der Akuten, dass sie bei Panik, noch bevor sie an die Moldau denkt, als Erstes ihren Atem regulieren muss, tief durch die Nase ein und dann durch den Mund wieder aus, mit Lippenbremse und vielleicht sogar in kleinen Stößen, es gibt keinen Grund, panisch zu sein, sagt sie sich. »Doch, jetzt!«, schreit sie, eher ein Kreischen, das so laut ist, dass es den Vorhang aus Motorenlärm um sie herum zerreißt.
    »Musst du pinkeln, oder was?«
    »Ich muss nicht pinkeln!«, brüllt sie noch lauter, warum stellt der jetzt so bescheuerte Fragen, wo es doch offensichtlich ist, dass sie   nicht   pinkeln muss.
    »Valerie, es tut mir leid, ich kann keine Gedanken lesen.«
    »Und wieso ist das so wichtig, warum ich raus will, ich hab gesagt, dass ich raus will, darf ich nur raus, wenn ich pinkeln muss, oder was soll die Scheiße?«, und als sie noch darüber nachdenkt, ob sie das wirklich gesagt hat, steht schon der Wagen mitten auf dem Standstreifen

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