Gibraltar
der Autobahn unter dem Schild A9 Richtung München, links das erste Haus von Leipzig, das allerdings mit Brettern vernagelt ist, und ansonsten nur das Sirren der Reifen auf dem Asphalt und grauer Wind, der herrlich ist. Sie läuft ein Stück weg vom Auto, bewegt die Beine, lehnt sich an die Leitplanke. Holt den Tabak hervor. Eigentlich ist noch nicht Zeit, aber es ist ein Notfall.
»Ist ein Notfall«, sagt sie zu Thomas, als er sie wenig später eingeholt hat.
»Kommt mir auch so vor.«
Sie stehen schweigend, es gibt nichts zu sehen, nichts zu reden. Der Tabak ist trocken und krümelig.
»Wie lange, dachtest du, wäre es gut für dich, noch hier stehen zu bleiben?«, fragt Thomas irgendwann.
»Du willst weiter.«
»Irgendwann schon.«
Sie nimmt einen tiefen Zug und schmeißt die Zigarette dann weg, Richtung Fahrbahn. Ein Auto zischt vorbei und frisst die Kippe auf.
»Die haben in der Akuten was über dich gesagt.«
»So. Willst du es mir erzählen?«
»Ich will nur, dass du weißt, dass ich das nicht denke.«
»Dass du was nicht denkst?«
»Ich hab denen gesagt, dass die das absolut falsch sehen und so, es gab hinterher richtig Stress, weil die immer wieder davon angefangen haben.«
»Valerie, ich muss schon wissen, worüber du sprichst, sonst kann ich gar nichts dazu sagen.«
»Na ja, das mit uns.«
»Was genau meinst du mit das mit uns ?«
Das Rauschen der Autos: wie Meeresbrandung. »Die haben mich gefragt, ob wir was miteinander hatten. Nicht gefragt. Die haben das gedacht.«
»Eine … Affäre? Oder was?«
»Immer wenn von dir die Rede war, haben die sich ganz komisch angeguckt und so, ich hab das überhaupt nicht ausgehalten. Die haben dann immer so komisch gesagt, ACH , DIESER HERR ALBERTS und WIE LANGE WAREN SIE DENN BEI DIESEM HERRN ALBERTS IN BEHANDLUNG und HABEN SIE GEGENÜBER DIESEM HERRN ALBERTS AUCH DIE GESCHICHTE MIT IHREM BRUDER THEMATISIERT , und irgendwann hab ich gesagt, der heißt nicht dieser Herr Alberts , sondern Thomas.«
»Valerie, ich weiß nicht, was du mir damit sagen willst. Du warst meine Patientin.«
Sie sagt nichts, und sie merkt, dass Thomas das nicht gefällt, er sagt: »Wir müssen weiter«, und als sie wieder im Auto sitzen und sie noch immer nichts sagt, fragt er noch einmal: »Was willst du mir denn damit eigentlich sagen?«
Was sich an diesem Abend im Hause der Milbrandts zugetragen hat, lässt sich nur noch schwer rekonstruieren. Valeries Angaben konnten ergänzt werden durch die ihrer Mutter. Der Vater dagegen lehnte jede Zusammenarbeit mit der Klinik ab.
Manuel war ein gesunder, normal entwickelter Junge von etwa vier Monaten. Es gab keinerlei Auffälligkeiten; nach der Geburt waren lediglich leichte Hautirritationen aufgefallen, die aber keine besondere Behandlung erforderten. Es bestand weder eine Nahrungsmittelintoleranz noch eine Allergie. Manuel lag in seinem Kinderbett und schlief. Nach Valeries Darstellung wachte sie spät am Abend auf, weil sie einen schlechten Traum gehabt habe. Auf dem Weg ins Wohnzimmer, wo sie die Eltern vermutete, sei sie an Manuels Zimmer vorbeigekommen. Sie habe ihren Bruder ansehen wollen. Als sie in das Bett gesehen habe, sei ihr aufgefallen, dass ihr Bruder blau angelaufen gewesen sei. Auch habe sie keinerlei Atmung feststellen können. In Panik habe sie den Bruder aus seinem Bett genommen und laut um Hilfe gerufen. An alles Weitere könne sie sich nicht mehr erinnern. Manchmal träume sie, Manuel habe noch einmal die Augen aufgeschlagen, manchmal sogar, er habe sie angelächelt. Im Traum lässt sie ihren Bruder dann vor Schreck fallen und wacht auf.
Valeries Mutter gab an, dass Manuel bereits auf dem Boden gelegen habe, als sie ins Zimmer gekommen sei. Valerie habe bewegungslos über ihm gestanden. Sie habe Valerie gefragt: »Was machst du denn?« Obgleich Valerie sich an diese Frage nicht mehr erinnern kann, bestätigte die Mutter mehrfach, dass dies ihre erste Frage an Valerie gewesen sei. Dies ist für Valeries Ätiologie sehr bedeutsam.
Die Mutter sei dann zu ihrem Sohn gestürzt und habe sofort versucht, ihn wiederzubeleben. Auch der Vater sei hinzugekommen. Die Mutter habe in diesen Momenten an nichts anderes gedacht als an das Wohl ihres Sohnes. Für den Vater dagegen schien festzustehen, dass sein Sohn tot sei. »Du hast ihn umgebracht«, habe er immer wieder zu Valerie gesagt, so die Mutter.
Da bei der Autopsie
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