Gibraltar
Fahrrad fuhr. Eines Morgens wollte Valerie sich nicht anziehen, und ihre Mutter hat ein paarmal gesagt, sie müssten zum Kindergarten, und sie habe es eilig, und sie solle sich jetzt bitte anziehen, aber Valerie war das damals nicht klar gewesen, warum das unbedingt so schnell passieren musste, also machte sie es langsam, beziehungsweise machte sie es gar nicht, und ihre Mutter blieb einfach ganz ruhig, wie sie auch später immer ganz ruhig und freundlich blieb, auch wenn sie wütend war, und ihre Mutter sagte, gut, wenn du dich nicht anziehen willst, dann muss ich dich halt im Schlafanzug zum Kindergarten bringen, und Valerie hielt das für eine gar nicht so schlechte Idee, eigentlich fand sie es sogar lustig, sich von ihrer Mutter im Schlafanzug zum Kindergarten bringen zu lassen. Was sie dann aber nicht lustig fand, wie sie bemerkte, als sie hinten im Kindersitz auf dem Fahrrad saß, war, dass es kalt war, wirklich sehr kalt, genau genommen Winter, und dass ein grauer kalter Nieselregen vom Himmel fiel und dass der Fahrtwind an jeder Stelle ihres Schlafanzuges durch den dünnen Stoff schnitt und tief unter ihre Haut drang, und dass sie noch nie im Leben und nie wieder seitdem so gefroren hatte, beziehungsweise seitdem sogar sehr oft friert, auch wenn es gar nicht kalt ist, und es nicht ertragen kann, morgens in ein kaltes Badezimmer zu kommen, weswegen sie das Badezimmer auch nachts volle Pulle heizt. Und dass sie hinten auf dem Fahrrad geschrien hat, Mir ist kalt, mir ist so kalt , wirklich geschrien und sogar hysterisch geschrien hat, so sehr, dass sich nicht nur ein paar, sondern wirklich alle Passanten nach ihr umgedreht und den Kopf geschüttelt haben, aber ihre Mutter hörte nicht auf ihr Schreien und setzte die Fahrradfahrt ungerührt bis zum Kindergarten fort, wo sie die bibbernde, heulende, blaulippige Valerie vom Fahrrad nahm und nachsichtig lächelte und bedauernd sagte: »Es tut mir sehr leid, Valerie, aber hoffentlich hast du jetzt begriffen, dass ich dich vorhin nicht ärgern wollte, als ich dir sagte, du sollst dich anziehen, verstehst du, und wenn du jetzt so schrecklich frierst, dann hast du dir das selbst zuzuschreiben, verstehst du, es ist ganz allein deine Schuld .« Und als sie in den Kindergarten kamen, fragte Frau Droll, ihre Erzieherin, was denn mit dem Kind passiert sei, und ihre Mutter erzählte unbekümmert, dass Valerie sich nicht habe anziehen lassen wollen, während Frau Droll ihr mit einem Gesichtsausdruck, der von Fassungslosigkeit in offenes Entsetzen wechselte, den klitschnassen Schlafanzug auszog und immer wieder den Kopf schüttelte und Valerie, die sich nur langsam wieder beruhigte, in ein riesiges Frotteehandtuch einwickelte, und was dann geschah, bekam Valerie nicht mehr mit, weil Annika, eine andere Erzieherin, sie mitnahm in den Toberaum, wo es einen niedrigen Heizkörper gab, auf den sie Valerie draufsetzte. Und Valerie hatte die ganze Sache dann bis zum Mittagsschlaf vergessen und erinnerte sich erst wieder daran, als ihre Mutter sie abholte. Sie hatte von zu Hause ein paar Sachen und eine dicke Jacke für Valerie mitgebracht, was aber nicht nötig gewesen wäre, weil sie schon von Annika eine komplette Garnitur Kleidung verpasst bekommen hatte und weil Justus, ein anderes Kind, ihr seine Regenjacke geliehen hatte. Sie sprachen nicht mehr über die ganze Sache, Valerie bekam sogar ein Rosinenbrötchen, und als sie zu Hause waren, spielte sie in ihrem Zimmer, während ihre Mutter in der Küche saß und irgendetwas tat, was ihre Mutter eben in der Küche tat, und dann klingelte es, und dann standen zwei Polizisten vor der Tür und sagten, dass ihre Mutter heute angezeigt worden sei, und Valerie kann sich noch ganz genau daran erinnern, wie ihre Mutter nachsichtig die Stirn runzelte und die beiden Beamten hineinbat und mit ganz weicher Stimme sagte, dass es sich dabei nur um ein Missverständnis handeln könne. Und Valerie erinnert sich an ihre Neugierde, wie sie die beiden Beamten in der Küche mit ihrer Mutter gesehen hat und was sie jetzt wohl mit ihrer Mutter machen würden, und auf der einen Seite war es eine gespannte, auf der anderen Seite eine ängstliche Neugierde, und sie weiß noch, dass ihr das Ganze unwirklich und auch ein bisschen unfair vorgekommen war, ohne dass sie hätte erklären können, warum eigentlich. Die beiden Polizisten unterhielten sich mit ihrer Mutter, die sehr freundlich zu ihnen war und ein paarmal über
Weitere Kostenlose Bücher