Giebelschatten
schloß für einen Moment die Augen, um sie dann wieder zu öffnen und erleichtert festzustellen, daß das wunderbare Bild noch immer dasselbe war.
»Komm, wir klettern dort hinüber«, schlug er vor und deutete auf einen breiten Sims, der an der höchsten Stelle einer sanften Schräge lag.
Gwen nickte und folgte ihm. Sie trug eine von Martins Hosen, die ihr – obwohl zu weit und zu lang – immer noch besser für einen solchen Ausflug geeignet schien, als eines ihrer Kleider.
Oben angekommen schaute sie sich erneut um. Der atemberaubende Ausblick hatte nichts von seiner Faszination verloren, ganz im Gegenteil: bei jedem Hinsehen schienen die Farben des Himmels noch leuchtender, das gesamte Panorama noch gewaltiger zu werden. Jetzt vermochte sie auch die Themse zu erkennen, ein glitzerndes Band, das durch die Spiegelung des Himmels auf seiner Oberfläche aussah, als sei es aus flüssiger Lava.
Sie hockten sich auf die Kante eines Giebels, inmitten einer Schar gurrender Tauben. Die Tiere beobachteten die beiden Eindringlinge argwöhnisch. Aus einem Tuch in seiner Jackentasche wickelte Martin zwei Räucherwürste, die er aus Ines’ Küche stibitzt hatte, und reichte Gwen eine. Minutenlang saßen sie einfach nur da, blickten in die untergehende Sonne, fühlten den kühlen Abendwind auf der Haut und kauten ihre Wegzehrung. Gwen war lange nicht mehr so glücklich gewesen wie in diesem Augenblick, unerreichbar hoch über der schmutzigen Stadt und - ja, auch das mußte sie sich eingestehen – ganz nah an Martins Seite.
In der Ferne sah sie die Kathedrale von St. Paul, halbrund die Kuppel des Kirchenschiffs, mit der unverwechselbaren Spitze, die mahnend in den Himmel wies. Der Anblick flößte ihr Ruhe und Vertrauen ein, und als Martin sie endlich ansprach, hatte sie nur darauf gewartet.
»Manchmal glaube ich, wir sind die beiden einzigen normalen Menschen in diesem Haus«, flüsterte er, so als scheue er sich, die andächtige Stille zu zerstören. »Und die beiden Kleinen, natürlich.«
Sie nickte. »Meine Mutter ist besessen von diesem Mistvieh Herodes, und mein Vater verbringt den ganzen Tag damit, allem und jedem aus dem Weg zu gehen.«
Martin lächelte. »Vor allem seiner Frau.«
Gwen seufzte. Ja, vor allem ihr, aber auch seinen Kindern, dem Personal, einfach jedem lebenden Wesen. Aber das sprach sie nicht aus. Martin wußte es auch so.
»Flagg ist unheimlich«, meinte er.
»Er war nie anders«, erwiderte sie und lächelte. »Ich glaube, er wurde schon als Mumie geboren.«
»Und Ines?«
»Zu gut für diese Welt.« Beide kicherten.
Es verging eine Weile des Schweigens. Dann fragte sie: »Was ist mit Christopher?«
»Er ist seltsam. Irgendwie…« – er suchte nach Worten – »…düster.«
Gwen nickte nachdenklich. »Irgend etwas ist in seinen Augen.«
Darauf schwieg Martin, aber sie glaubte, daß er wußte, was sie meinte. Sie wandte sich zu ihm um und sah ihn eindringlich an. Er erwiderte stumm ihren Blick.
»Und wir?« fragte sie.
»Wir?«
»Ja«, sagte sie. »Ich meine, wir kennen uns seit fast sechs Jahren, leben im gleichen Haus –«
»Wie Geschwister«, unterbrach er sie und sah dabei fast ein wenig traurig aus.
»Aber wir sind keine«, stellte sie fest. »Wir mögen uns, und trotzdem war da nie…«
Wieder fiel er ihr ins Wort. Ein Teil seiner natürlichen Scheu schien ihn verlassen zu haben. »Das liegt an dir«, sagte er.
Sie sah ihn erstaunt an. »Nur an mir?«
Er nickte. »Du kommst aus dieser Gesellschaft, und dort gehörst du hin. Bei mir bin ich da nicht so sicher.« Die letzten Strahlen der Sonne zauberten ein magisches Leuchten in seine Augen. »Außerdem magst du die Bälle und die Männer, mit denen du dorthin gehst.«
Nun war sie es, die bedrückt klang. »Glaubst du das wirklich?«
Er antwortete nicht darauf, sondern wandte lautlos den Kopf ab und sah hinüber zur Kathedrale. Nach einer Weile griff er vorsichtig nach ihrer Hand. Seine Berührung war warm, und die kühle Abendbrise, die flüsternd um ihren Körper strich, stand in einem eigenartigen Gegensatz dazu. Ihre Haut war wie von kaltem Feuer überzogen, und doch war da Martins Nähe als Quell einer Wärme, die jenseits alles Körperlichen lag. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Ähnliches gefühlt zu haben.
Sie suchte seinen Blick, und als er das Gesicht wieder zu ihr umwandte, sah sie, wie sich die Glut in ihrem Blick in seinen Augen spiegelte. Gwen senkte die Lider, beugte sich zaghaft zu ihm vor
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