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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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konnte.
    Am Morgen des Fünfundzwanzigsten erwachte sie nur langsam, blinzelte zwei-, dreimal in die grelle Wintersonne, die zwischen den Vorhängen hindurchschien, streckte und dehnte ihre steifen Glieder und mühte sich mit beiden Beinen über die Bettkante. Während sie gähnend zum Fenster ging und nach den Vorhängen griff, spürte sie, wie die Müdigkeit in ihrem Körper sich ein letztes Mal wie ein Ballon aufblähte, aus dem dann zögernd die Luft entwich. Als sie den Stoff beiseite zog und das Licht ins Zimmer flutete, war sie endgültig wach.
    Die Äste der Birken vor dem Fenster bogen sich träge unter der Last des frisch gefallenen Schnees. Für mehrere Minuten stand Valerie einfach nur da, blickte hinaus über das glitzernde Weiß und dachte daran, wie häßlich doch der Winter in Paris war, verglichen mit dieser strahlenden Porzellanlandschaft. Als sie die Spiegelung ihres verträumten Lächelns in der Scheibe sah, schüttelte sie den Kopf, raufte sich seufzend mit beiden Händen durchs Haar und warf einen Blick ins Nebenzimmer.
    Curtis’ Bett war bereits gemacht und seine Kleidung von dem Sessel verschwunden, auf den er sie gestern abend geworfen hatte. Valerie fragte sich, wie spät es wohl sein mochte, wusch sich und schlüpfte schließlich in ihr Kleid. Ihr langes Haar steckte sie ohne große Mühe hoch und ging dann hinunter zum Frühstück.
    Curtis war nicht da, sein Geschirr bereits abgeräumt. Während sie noch überrascht neben dem Tisch stand, kam eines der Dienstmädchen, brachte ihr Tee und einen Brief, auf dem ihr Name stand.
    »Liebe Valerie«, stand darin, »ich erhielt soeben ein Telegramm, das mich zu einer überstürzten Rückkehr nach Paris veranlaßt. Ich verspreche Dir, daß ich am Abend zurück sein werde. Haus und Dienerschaft stehen zu Deiner Verfügung – Curtis.«
    Verwirrt sank sie in ihren Stuhl. Tiefe Enttäuschung überkam sie, aber sie mußte ihre Gefühle unterdrückten, als das Dienstmädchen zurückkam und Valerie nach weiteren Wünschen fragte.
    »Wann hat Lord Cranham das Haus verlassen?« erkundigte sie sich.
    Das Mädchen überlegte kurz. »Vor ungefähr zwei Stunden, gegen acht. Alfred, der Kutscher, saß gerade in der Küche beim Frühstück.«
    Valerie nickte ihr gedankenverloren zu, und das Mädchen verließ den Raum. Sie fragte sich, was es war, das Curtis ihr verheimlichte. Erst sein merkwürdiges Verschwinden während ihrer ersten gemeinsamen Nacht, und nun das. Ihre Enttäuschung begann in Ärger umzuschlagen. Curtis behandelte sie wie ein kleines Kind. Sie beschloß, ihn am Abend zur Rede zu stellen.
    Den Rest des Morgens verbrachte sie mit Stöbern in der Bibliothek. Als sie nach dem Mittagessen das Haus zu einem Spaziergang verlassen wollte, eilte ihr einer der Diener entgegen.
    »Besuch, Mademoiselle«, meldete er knapp.
    Valerie trat an ihm vorbei zu einem Fenster der Eingangshalle. Vor dem Haus fuhr eine Kutsche vor. Sie konnte durch die Scheiben hindurch das Knirschen des Schnees unter ihren eisenbeschlagenen Speichenrädern hören. Die beiden Pferde schnaubten, als sie am Fuß der breiten Außentreppe zum Stehen kamen. Der Fahrer sprang schwerfällig vom Kutschbock, eilte zur Seitentür des Gefährts und öffnete sie mit weitem Schwung. Mit hölzerner Galanterie streckte er seine Hand ins Dunkel der Kabine, aus der eine junge Frau hervorschaute, sich beim Aussteigen helfen ließ und dann nach kurzem Zögern die Treppe hinaufstieg.
    Valerie gab dem Diener ein Zeichen, die Tür zu öffnen, und wartete, bis er die Besucherin hereingeführt hatte. Als sie ihr entgegentrat, huschte ein Anflug von Verwirrung über das schmale hellhäutige Gesicht der Frau.
    »Verzeihen Sie, ich erwartete –«, begann sie.
    »Lord Cranham, nehme ich an«, unterbrach Valerie sie mit einem freundlichen Lächeln. »Er wird erst am Abend zurück sein. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
    Die Frau, die vielleicht drei oder vier Jahre älter sein mochte als sie selbst, lächelte scheu zurück, dann nickte sie. »Mein Name ist Irina Duke, aus London. Ich habe gestern von Calais aus ein Telegramm nach Paris geschickt, um Curtis von meiner Ankunft zu unterrichten. Man antwortete mir postwendend, daß er sich nicht in der Stadt aufhalte, sondern mit einer Bekannten hierher gefahren sei.« Ihr Akzent war so britisch wie ihr helles Gesicht und die Sommersprossen. »Die Bekannte sind Sie, nehme ich an?«
    Valerie nickte freundlich, ging auf die Engländerin zu und reichte ihr lächelnd

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