Giebelschatten
uns beiden.«
Er machte eine Pause und sah dabei die Kaffeekanne an, als wolle er sie allein mit der Kraft seiner Gedanken zerschlagen. »Nur manchmal hat er… seltsame Anwandlungen, kurze Perioden, in denen irgend etwas mit ihm passiert, ihn verändert.« Seine Augen suchten die Valeries. »Wie Jekyll und Hyde. Nur, daß die Veränderung bei ihm nicht äußerlich ist. Hier oben…« – er deutete auf seine Stirn – »… hier oben geschieht etwas mit ihm. Etwas, das niemand begreifen kann.«
Valerie blickte zu Irina, aber die junge Frau starrte weiterhin mit festem Blick auf Curtis. Hinter ihrer Stirn arbeitete es.
»Er tut eigenartige Dinge«, fuhr Curtis fort. »Nicht immer ist das, was er tut, schlecht. Aber niemals ergibt es einen Sinn.«
»Deshalb wurde er als Ripper verhaftet«, sagte Irina.
Curtis schüttelte den Kopf. »Nicht nur deshalb, und du weißt es. Es gab Spuren. Spuren, die direkt in unser Haus führten. In sein Zimmer. Aber ob er wirklich der Mörder war, wer weiß das schon.«
Valerie schüttelte den Kopf. »Aber wenn er hier ist, müssen wir die Polizei verständigen.«
Curtis sah sie an. Sein Blick wirkte müde. »Er war hier. Bis heute nacht. Seitdem ist er verschwunden.«
»Verschwunden?« wiederholte Irina ungläubig.
»Er hat zwei Türen eingeschlagen, mit bloßen Händen, und ist durch ein Fenster im Erdgeschoß nach draußen gesprungen.«
Valerie bemerkte, daß ihre Finger zitterten. »Wir müssen zur Polizei, versteht ihr das denn nicht?« Sie wollte ihn zwingen, ihren Blick zu kreuzen. »Er hat gemordet, Curtis! Dein Bruder ist gefährlich!«
Einen Augenblick lang erwiderte er stumm ihren Blick, dann schüttelte er erneut den Kopf. »Nein, Valerie, du verstehst nicht.« Er sagte das ohne Bosheit, mit einer Stimme bar jeder Anklage oder Wut. »Erinnerst du dich an unsere erste Nacht, als ich für mehrere Stunden fortging?«
Sie nickte.
»Ich war hier, um nach ihm zu sehen. Er saß in seinem Zimmer am Klavier. Und gestern und vorgestern genauso. Es waren immer Leute aus meinem Personal in seiner Nähe.« Er fuhr nervös mit der Hand durch die Luft und stieß dabei gegen die Kanne. Sie kippte zur Seite, und schwarzer Kaffee ergoß sich über den Tisch. Curtis kümmerte sich nicht darum.
»Begreifst du, Valerie?« Er beugte sich vor und ergriff mit eiskalten Fingern ihre Hand. »Als die Morde geschahen, war Aaron in seinem Zimmer und spielte Klavier!«
4.
Henri hob die Axt, holte weit aus und ließ sie hinab in Patricks Gesicht krachen. Eine dunkelrote Fontäne explodierte unter der Perücke des jungen Schauspielers, er taumelte mit einem gellenden Kreischen nach hinten, stolperte zwei, drei Schritte zurück und brach in die Knie. Das Geräusch, mit dem er auf den hohlen Boden der Bühne polterte, hallte durch den Zuschauerraum. Ein Aufschrei ging durchs Publikum, und während Henri in irrsinniges Gelächter verfiel, schloß sich der Vorhang zur Pause vor dem dritten Akt.
Valerie eilte durch die Kulissen in ihre Garderobe. Bühnenarbeiter strömten ihr von allen Seiten entgegen, um die Dekoration umzubauen. Als sie die Tür öffnete, stand Irina vor ihr.
»Hallo«, sagte Valerie. Sie schenkte der Engländerin ein Lächeln und setzte sich vor den Spiegel, um ihr Gesicht zu pudern.
»Du warst toll.« Irinas Stimme klang nicht ganz so begeistert wie ihre Worte.
Valerie drehte sich zu ihr um. Um ihre Lippen spielte ein verständnisvolles Lächeln. »Es gefällt dir nicht, hm?«
Irina nickte zurückhaltend. »Nicht wegen dir«, fügte sie schnell hinzu. »Aber das Stück, das ganze Blut. Ich kann das nicht sehen, nicht jetzt.« Ihr Blick glitt an Valerie vorbei in den Spiegel. »Wärest du mir böse, wenn ich schon nach Hause fahre? Ich möchte nach Curtis sehen. Ich habe Angst um ihn.«
»Ich glaube, er ist froh, wenn er eine Weile allein sein kann. Er wartet darauf, daß Aaron zu ihm zurückkehrt. Dabei können wir beide ihm nicht helfen.« Sie drehte sich wieder zum Spiegel.
Irina wollte etwas erwidern, als die Tür aufflog.
»Valerie!« Patrick stürmte in die Garderobe, setzte dazu an, etwas zu sagen, als er plötzlich Irina bemerkte. »Oh, Mademoiselle«, entfuhr es ihm überrascht.
Valerie ließ das Puderkissen auf den Schminktisch fallen und stand auf. Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf Patrick.
»Irina, das ist Patrick Pagnol. Henri hat ihm gerade den Schädel eingeschlagen.«
Der junge Mann grinste breit. Er hatte die Perücke abgenommen und hielt
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