Giebelschatten
Mädchen.
Allein in den letzten beiden Tagen, seit die Presse von den Morden berichtete, hatten sich fast zwei Dutzend angebliche Täter freiwillig gestellt – die einen, um für die Nacht ein Dach über dem Kopf zu haben, andere aus gestörtem Geltungsdrang, und einige, weil sie tatsächlich glaubten, der Mörder zu sein. Für viele Bürger war der Montmartre mit seinen dunklen Spelunken, den Spielhöllen, Künstlerateliers und Bordellen nichts anderes als der Vorhof der Hölle, ein stinkender Abgrund aus Verbrechen und Prostitution, den es mit aller Macht zu bekämpfen galt.
»Mit ziemlicher Sicherheit ist das da an der Wand ihr Blut«, meinte der Arzt.
»Ach?« Pascin stieß ein böses Lachen aus. »Tatsächlich?« Er fuhr herum und schenkte dem Mann einen vernichtenden Blick. »Sagen Sie, wie sehe ich eigentlich aus? Wie ein Idiot?« Er schüttelte den Kopf, wischte sich mit Daumen und Zeigefinger durch die Augen und fügte dann ruhiger hinzu: »Natürlich ist das ihr Blut. Unser Mann ist ein Spaßvogel.«
Am Ende der Gasse entstand ein Aufruhr, als sich zwei Polizisten mit einem hölzernen Sarg zwischen den Schaulustigen hindurchdrängten, für einige Schritte in der Dunkelheit zu groben Umrissen wurden, um schließlich ins Licht der Polizeilampen zu treten. Die Männer stellten den Behälter mit einem Scheppern ab, öffneten den Deckel und hoben die Leiche an Händen und Füßen hoch, ohne sie aufzudecken.
Pascin hörte plötzlich ein reißendes Geräusch, sah, wie der Körper unter dem Leichentuch in der Mitte durchsackte und irgend etwas Feuchtes auf das Pflaster klatschte. Ein junger Beamter wandte sich ab und übergab sich in die Schatten.
»Es reicht«, flüsterte Pascin lautlos zu sich selbst, so daß nur Darbon, der direkt an seiner Seite stand, es hörte.
Der Inspektor drehte sich zu ihm um. »Wenn er sich hier irgendwo versteckt, werden wir ihn finden.«
Pascin ging los und gab Darbon ein Zeichen. »Kommen Sie mit. In ein paar Stunden sind wir zurück. Bis sieben Uhr brauche ich drei Hundertschaften – und wenn ich den Präsidenten selbst aus dem Bett werfe.«
Darbon riß ungläubig die Augen auf. »Drei Hundertschaften… Heißt das, Sie wollen –«
Pascin unterbrach ihn. »Wenn es sein muß, werde ich dieses Viertel Stein für Stein auseinandernehmen lassen. Wir werden jedes verfluchte Haus durchsuchen, bis wir den Dreckskerl gefunden haben.«
Darbon schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, was das bedeutet?« Pascin konnte das nicht ernst meinen. »Wenn wir hier mit dreihundert Mann anrücken, gibt es einen gottverdammten Bürgerkrieg.«
Pascin lächelte humorlos. »Sie übertreiben wieder einmal, Darbon. Wie immer.«
»Aber die Proteste! Der Innenminister wird Sie steinigen lassen. Was bezwecken Sie damit?«
Der Inspektor drehte sich im Dunkeln zu ihm um und musterte ihn. »Sie sind noch zu jung, Darbon. Aber ich erinnere mich genau, was damals in London geschehen ist. Dort hat man es mit sanften Mitteln versucht. Und dort sind tatsächlich fast Menschen gesteinigt worden.« Er wiegte resigniert den Kopf von einer Seite zur anderen. Schließlich setzte er seinen Hut auf. »Ich habe nicht das Bedürfnis, zum Clown eines kriminalistischen Mythos zu werden.«
Damit drehte er sich um und schob sich durch die Menge.
Darbon sah noch einen Augenblick lang bewegungslos hinter ihm her, dann folgte er ihm zwischen dicht gedrängten Körpern. Ein kleiner Junge bespuckte seinen Mantel. Darbon schlug ihm im Gehen ins Gesicht.
3.
Der gewaltige Renaissance-Bau überragte mit seinen vier Etagen einen kleinen Birkenwald, dessen weiße Stämme mit der blendenden Schneelandschaft verschmolzen. Das Haus selbst bestand aus großen, weit angelegten Hallen und kleineren vertäfelten Zimmern mit offenen Kaminen und prachtvoll geschmückten Decken und Wandverzierungen. Einige davon mußten nachträglich angebracht worden sein.
Nachdem sie gegen halb zwei in der Nacht eingetroffen waren, hatte Curtis Valerie ein Zimmer gleich neben dem seinen angeboten. Die Verbindungstür hatten sie die Nacht über offen gelassen.
Während die Bediensteten den folgenden Tag damit zubrachten, in einem der Säle einen riesigen Weihnachtsbaum zu errichteten, war Curtis mit Valerie durch die nahen Wälder gestreift, hatte ihr Rehe gezeigt, um dann am späten Nachmittag gemeinsam zum Haus zurückzukehren, zu Abend zu essen und schließlich mit ihr den glücklichsten Weihnachtsabend zu verbringen, an den sie sich erinnern
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