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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zusammenzusinken wie ein Kind, dem man einen Herzenswunsch ausgeschlagen hat.
    »Sie haben sich bereits entschlossen, nicht wahr?« fragte er schwach. »Meine Sammlung gefällt Ihnen nicht.«
    Curtis wollte beschwichtigend einlenken, doch Valerie schüttelte impulsiv den Kopf. »Richtig, Monsieur. Wenn Sie uns also zum Ausgang begleiten würden… Ansonsten bin ich sicher, daß wir den Weg auch allein finden.«
    In Stillers Augen blitzte ganz kurz etwas wie Verärgerung auf. Als aber Curtis an ihre Seite trat und ihn auffordernd ansah, drehte er sich wortlos um, ging zur Tür und führte sie die Treppe hinunter zur Haustür.
    Während sie an ihm vorbei ins Freie hinaustraten, sagte er: »Ich bitte um Ihre Verzeihung, Mademoiselle. Und auch um die Ihre, Lord Cranham.«
    Plötzlich schien seine weiße Gesichtshaut noch farbloser. »Verzeihen Sie einem Phantasten.«
    Dann schloß er ohne ein weiteres Wort die Tür.
    Die beiden sprachen nicht miteinander, bis sie aus dem Gang hinaus auf die Straße traten. Erst als sie in einer herbeigerufenen Kutsche saßen, sah Curtis sie an.
    »Es tut mir leid«, sagte er leise.
    Valerie schüttelte den Kopf. »Der Kerl ist ein widerliches Schwein.«
    »Du magst keine reichen Männer?« fragte er und grinste.
    »Ich mag keine reichen, dekadenten Männer.«
    Sie schwiegen für einige Sekunden. Dann meinte Curtis: »Vielleicht sollten wir heute abend in Champagner baden.«
    Valerie stürzte sich lachend auf ihn und hämmerte spielerisch mit ihren Fäusten auf ihn ein, bis das ganze Gefährt zu schwanken begann und sie hörten, wie der Kutscher vorne auf seinem Bock laut fluchte.
    »Was hältst du davon, wenn wir Weihnachten auf dem Land verbringen?« fragte Curtis, nachdem er ihren Angriff abgewehrt und sie in seine Arme genommen hatte.
    »Auf dem Land?« wiederholte sie überrascht.
    »Auf meinem Landsitz. Es wird dir gefallen.«
    Sie riß erstaunt die Augen auf. »Du hast ein Haus auf dem Land?«
    Er nickte. »Ein kleines Gut, zweieinhalb Stunden südlich von Paris. Wir könnten noch heute abend nach der Vorstellung hinfahren. Wenn du möchtest, heißt das.«
    »Du fragst, ob ich…?« stammelte sie mit einem hellen, glücklichen Lachen. Ihre Augen strahlten. »Ob ich möchte…?«
     
    »Hau ab!« schrie der alte Mann aus dem ersten Stock hinunter in den Hof.
    Jean warf sich in einer verzweifelten Bewegung zur Seite, als der Inhalt eines Nachttopfes neben ihm in den Schnee klatschte. Noch während er sich wieder hochrappelte, formten seine Hände eine steinharte Kugel aus Eis. Er holte mit aller Kraft aus, und bevor der Mann zur Seite treten konnte, traf das Geschoß ihn mitten auf die Stirn. Jean sah, wie er mit einem jaulenden Aufschrei vom Fenster zurück in seine Wohnung geschleudert wurde, als hätte ihn jemand mit einem brutalen Ruck an einem Strick nach hinten gerissen. Es krachte und schepperte, als der Alte mit einem weiteren Kreischen zwischen seine Möbel polterte.
    Jean wartete nicht ab, bis der Mann nach den Gendarmen rufen konnte, sprang durch die Hintertür des verkommenen Mietshauses, rannte einen dunklen, nach Urin stinkenden Flur entlang und landete mit einem weiteren Sprung draußen auf der Straße. Während er losspurtete, hörte er, wie über ihm im ersten Stock ein Fenster aufgerissen wurde. Das Gesicht des alten Mannes erschien, eine blutende Schürfwunde auf der Stirn.
    »Du Scheißkerl!« kreischte er so laut hinter ihm her, daß es zwischen den grauen Fassaden widerhallte. »Verdammt nochmal, Polizei!«
    Vor Jean stieg die Gasse an bis zum Fuß einer steilen Treppe. Er versuchte, gleich mehrere Stufen auf einmal zu nehmen, glitt auf dem vereisten Steinboden aus und schlug mit dem Ellbogen hart gegen eine Mauer. Mit einem Schmerzensschrei warf er sich erneut nach vorne und stolperte zwei, drei weitere Stufen hinauf, als er plötzlich hinter sich das hohe Trillern einer Polizeipfeife hörte. Mit einem wütenden Aufschrei beschleunigte er sein Tempo.
    »Der Junge da vorne!« keifte der Alte aus seinem Fenster, und als Jean sich im Laufen umsah, entdeckte er zwei Uniformierte, die mit einem weiteren Pfeifen die Verfolgung aufnahmen.
    Während er um eine Ecke bog, dabei fast ein grell geschminktes Mädchen über den Haufen rannte, dann eine weitere Gasse entlangraste, wünschte er dem Alten die Beulenpest an den Hals. Jean hatte nichts anderes getan, als sich in einer Ecke des Hinterhofes ein Lager für die Nacht einzurichten, wenigstens für die nächsten drei,

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