GIERIGE BESTIE
von firmeninternen Unterlagen, die Sie selbst als vertraulich einstufen würden. Aber“ – das hatte ich bereits ausgeführt, jedoch es erschien mir besonders wichtig, um die komplexen Zusammenhänge zwischen destruktivem Verhalten am Arbeitsplatz und den auslösenden Kriterien verstehen zu können – „Sie sollten immer im Hinterkopf behalten, dass niemand in der Früh aufwacht und meint, es wäre ein schlechter Tag, er würde ein außergewöhnliches Verhalten zeigen, indem er stiehlt, nötigt, schlecht ausruft oder in die Portokassa greift und am Abend stellt er plötzlich fest, es sei doch ein schlechter Tag gewesen, er würde es nie mehr wieder tun. Nein, die Entwicklung von destruktivem Verhalten, von Entscheidungen, die von der Norm abweichen und zur Beeinträchtigung oder Schädigung anderer führt, das ist in der Regel ein langsamer und sehr schleichender Prozess.“
Während ich nochmals den von mir immer wieder zitierten Wandel hinsichtlich der Reaktion auf äußere Umstände vor 50 Jahren und heute erklärte – mir erschien der Umstand wichtig, dass auch El Presidente diese Zusammenhänge kannte –, begann ich nun die Sitzordnung etwas genauer zu beobachten. Ich sah zwar kein Schildchen, welches eine bestimmte Person zu einem bestimmten Platz vielleicht aus protokollarischen Gründen zuordnen würde, trotzdem hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass jeder der Anwesenden beim Betreten dieses Raumes schon wusste, wo er sitzen „durfte“.
El Presidente, flankiert vom Generaldirektor und, wie mir mehr und mehr schien, auch von dessen Stellvertreter. Irgendwie passte der Ansprechpartner von jenem Leiter, der Ello Dox „übernommen“ hatte, zwar in das Gesamtbild, aber er war um ein Quäntchen fast zu perfekt. Den offensichtlich Mächtigen in dieser Institution saßen am anderen Ende des Tisches die Gäste aus Politik und staatlicher Verwaltung gegenüber, während die eine Längsseite wahrscheinlich ausschließlich von allen Spitzenmanagern eingenommen wurde. Ihnen gegenüber hatte ich, vielleicht einer inneren Eingebung folgend, Platz genommen, sodass ich gemeinsam mit dem Protokollführer eine ganze Seite des Tisches in Anspruch nahm.
„... wird der Umstand, dass jemand einen Arbeitsplatz hat, im Allgemeinen ganz anders bewertet. Er ist viel wertvoller geworden und jetzt scheint ein hochkomplexes psychologisches Phänomen zu greifen, dass manche Menschen glauben, wenn es ihnen am Arbeitsplatz schlecht geht, würde es ihnen besser gehen, wenn es anderen noch schlechter geht. So setzen sie teilweise Handlungen oder zeigen ein bestimmtes destruktives Verhalten, wobei sie andere schädigen oder erniedrigen, um sich anschließend kurzzeitig besser zu fühlen.“
Das goldene Gliederarmband war während meiner Ausführungen noch ein paar Mal auf die Tischplatte gestoßen, beim letzten Satz verstummte das blecherne Geräusch plötzlich. Der junge Mann hatte seine Hände verschränkt und sich etwas tiefer in seinen Stuhl zurückgezogen.
„Wollen Sie damit sagen“, hörte ich plötzlich El Presidente sagen, der sich mit einem Mal sehr beherzt nach vorne beugte, seine Unterarme auf die Glasplatte legte, damit sein wirkliches Interesse bekundete, wo hingegen der offensichtliche Ansprechpartner des Gliederarmbandes genau das Gegenteil vollzog, indem er immer tiefer in den Sessel rutschte, „wollen Sie damit ernsthaft sagen, dass das Verhalten des Vorgesetzten den Untergebenen gegenüber ausschlaggebend für die Wahrscheinlichkeit eines destruktiven Verhaltens ist?“
„Nicht nur, aber auch, El Presidente. Aber fast alle Formen von Workplace Violence haben ihren Ursprung in einem unglücklichen oder von Misstrauen getragenen Verhältnis zwischen den Mitarbeitern und über die hierarchischen Stufen hinweg.“ Nachdem kurzzeitig Bewegung in die versammelte Mannschaft gekommen war, wurde leichtes Gemurmel laut.
„Wir gehen beim heutigen Stand des Wissens davon aus, dass drei Dinge zusammentreffen müssen, um die wirkliche Katastrophe sehr wahrscheinlich auszulösen. Erstens: eine länger dauernde Stress-Situation.
Wenn die gesamte Belegschaft teilweise durch äußere Umstände – wenn z. B. Flugzeuge in ein Hochhaus donnern, wenn Rezession herrscht, wenn wir länger und intensiver arbeiten müssen, ohne dafür anderweitig entsprechend Ausgleich zu finden – längere Zeit in eine Belastungssituation getrieben wird, steigt die Wahrscheinlichkeit bereits stark an, dass zumindest einer der Betroffenen
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