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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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kritisiere wirtschaftliche Entscheidungen, wiewohl ich persönlich aus psychologischer Sicht glaube, dass das Wort Reform und die praktische Umsetzung mehr zu einem Modewort und manchmal mehr zum Beweis der wirtschaftlichen Existenz jener herangezogen wird, die Reformen und auch die Korrekturen ihrer eigenen Vorgaben ständig fordern, als tatsächlich sinnvoll eingesetzt zu werden. Verstehen Sie das bitte nicht falsch“, fügte ich an, „ich möchte keinesfalls die wirtschaftlichen Entscheidungen, die sicher ihre Begründung haben werden, dazu sind Sie die Spezialisten, hinterfragen oder kritisieren. Ich möchte nur ergänzend hinzufügen, dass diese Handlungen auch noch eine zweite Seite haben, nämlich eine psychologische.
    Ein Mensch, der permanent unter Stress steht, erträgt es viel leichter, wenn er sich mit dem Betrieb, mit den Leuten, mit dem Produkt und mit der Sinnhaftigkeit seiner Arbeit identifizieren kann. Nimmt man ihm diese Identifizierung oder verliert er sie aufgrund einzelner Aspekte, Entscheidungen, einer mangelnden Kommunikation, eines häufigen Arbeitsplatzwechsels, einer zu häufigen Änderung seines direkten Ansprechpartners, seines Vorgesetzten, werden die strategischen Ausrichtungen öfter gewechselt als die Schallplatten in einer Landhaus-Diskothek, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Sie die erste anonyme E-Mail bekommen, in der jemand, ohne seinen Namen zu nennen, auf Missstände aufmerksam macht. Und in der Dunkelheit der Anonymität, die ihn scheinbar in Sicherheit wiegt, beginnt er erstmals zu beschuldigen, zu beschimpfen oder bestimmte Handlungen anzudrohen.“
    Den Blick zum Flipchart gerichtet, merkte ich, dass plötzlich hinter meinem Rücken Bewegung in den Raum gekommen war. Als ob ich den Satz „... nicht mehr committed war ...“ symbolisch aufspießen wollte, nahm ich langsam aber zielgerichtet einen roten Edding von der kleinen schalenförmigen Ablage, zog die Kappe diesmal zielsicher aber etwas härter von der Spitze und zeichnete zunächst, die Wellenlinie ergänzend, einen Kurvenbogen, der sich langsam jedoch stetig nach unten bewegte. Und etwas größer, dicker und noch spitzer stach ich einen roten Pfeil hinein und vermeinte zu vernehmen, dass eine etwas andere Stimme aus meinem Mund kam. „Wenn dann noch eine persönliche Problemstellung dazukommt, eine komplexe Scheidung, ein Todesfall, der Unfall eines Kindes oder eine Krankheit, dann sollten Sie sehr vorsichtig sein.“ Jetzt versuchte ich meine Worte respektvoll, nicht unhöflich, aber trotzdem Silbe für Silbe wiederholend, zu wählen. Ich drehte mich um, blickte auf die Golduhr und sagte: „Dann sollten Sie sehr vorsichtig sein, dass Sie den Kontakt zu jemandem nicht verlieren.“

siebzehn
    Und wie auf ein unsichtbares Zeichen, als ob der Opernsänger das letzte hohe C aus seinem Hals herausgewürgt hatte, begannen sich alle zu bewegen, aber nicht, um zu applaudieren, sondern ganz im Gegenteil. Der gekrümmte Protokollführer sprang auf und brachte El Presidente auf ein dezentes Handzeichen einen Block, den dieser hurtig zu beschriften begann. Der Finanzchef öffnete seinen Krawattenknopf. Einer der IT-Fachleute, der beständig an seinem Kugelschreiber gespielt und ihn immer wieder teilweise bis zur Sollbruchstelle gedehnt und malträtiert hatte, hatte offensichtlich den richtigen Zeitpunkt der Entspannung vergessen und zerbrach ihn. Das Geräusch von zerberstendem Hartplastik und einer Metallmine passte wie angegossen in die Metapher des hohen C von unserem Tenor, als ob der Dirigent vor lauter Faszination oder Entsetzen des Gesanges seinen Taktstock zerbrechen würde. Denn etwa zum gleichen Zeitpunkt sprang der Mann mit den schwarzen Haarlocken auf und, gerade noch rechtzeitig, wie mir schien, fiel ihm sein so offensichtlich wichtiger Ansprechpartner mit klarer, sehr beherrschter aber bestimmter Stimme in das noch nicht ausgesprochene Wort, indem er sehr freundlich meinte: „Wir danken Ihnen sehr für Ihre Ausführungen, die, wie ich meine, extrem hilfreich sind bei der Bearbeitung unserer jetzigen Problemstellung.“
    Dabei lächelte er ein wenig und machte Anstalten sich zu erheben. Jetzt lagen die Nerven blank. Die meisten, wenn nicht alle, von ihnen hatten sich wahrscheinlich das letzte Mal anlässlich der Silvesterfeier etwas ausruhen und entspannen können. Aber seit Bekanntwerden des Umstandes und Eintreffen des Briefes von Ello Dox an den Personalchef, in dem er ihm für seine persönliche

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