GIERIGE BESTIE
Menschen zu richten und zu urteilen. Das ist der einzige Grund, warum ich hier bin.“
Ich blickte kurz zu den Französischen Alpen hinüber und war kurzzeitig geneigt, noch einen Schritt weiter zu gehen. Mich einfach umzudrehen, das erschien mir dann aber doch zu riskant. Ich verhehle nicht, dass er mir zu diesem Zeitpunkt kurz extrem auf die Nerven ging, mit seinen Spielchen, seiner Manipulation und Antizipation, indem er, einer chinesischen Geisha gleich, mit dem Wissen um seine widerrechtlich erlangten Daten wie mit einem Fächer sich ständig frische Luft und damit Macht zufächelte. Trotzdem, meine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Ich sprach nicht anklagend, sondern leise. Die Pausen waren wohl gewählt und Wortwahl und Metapher präzise und schneidend. Ich wusste, dass das Vorausgehen seiner Frau, die die Geburt seines zweiten Kindes nicht überlebt hatte, zwar nicht die Ursache, aber die endgültig auslösende Katastrophe war. Ich wusste, dass er noch verzweifelt versucht hatte, in der Firma durch wochenlange, fast permanente Anwesenheit seine Identifizierung wieder zu finden und dass sein erstes Kind sehr lange beim Abendgebet auf ihn verzichten musste. Ich wusste einiges, aber nicht alles. Das Spiel war riskant, aber nicht hoffnungslos. Aber ich hatte mich nun einmal entschlossen, das Gespräch zu suchen, also musste ich es auch führen. Ich wollte hier, heute und jetzt nicht verhandeln. Ich wollte sprechen. Ich wollte kommunizieren in einer geraden, direkten, klaren und sauberen Art und Weise. Ich wollte keine Desinformationen und keine Lügen. Ich wollte mit ihm auf eine gleiche Ebene, um zu verstehen, was er getan hatte.
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl, dass sich seine Augen etwas vergrößert hatten und er an seiner Zigarette etwas hastiger zog. Aber er blieb standhaft und beantwortete mein kleines Plädoyer mit einer Gegenfrage, die, wie mir schien, schon etwas tiefer zum eigentlichen Motiv vordrang. „Und wissen Sie, was mir am meisten auf die Nerven gegangen ist?“ Jetzt starrte er mich ungläubig an. Ich musste alles auf eine Karte setzen. „Die Uhr, oder vielmehr das Uhrband. Das beständige leise Klopfen, was im Laufe der Zeit bei Ihnen wahrscheinlich wie das gigantische Dröhnen einer hünenhaften Kirchenglocke gewirkt haben muss. Was Sie wahrscheinlich irgendwann einmal so taub gemacht hat wie Quasimodo, der es nur aufgrund der Tatsache, weil er nicht mehr hörte, ausgehalten hatte, die Glocke von Notre-Dame zu läuten. Die Uhr von ‚petit homme‘, also vom kleinen Mann, wie wir ihn taufen könnten, der einmal behauptete, ihr Chef gewesen zu sein.“
Wie ein Rumpelstilzchen warf er seine Zigarettenkippe auf den Boden, sodass die Funken konzentrisch in alle Richtungen stoben. Geradezu hektisch, nervös riss er aus seinem dunkelgrünen Parker eine neue Schachtel heraus und fetzte sie auf. Den Klappverschluss der Marlboro-Schachtel öffnete er nicht, er riss ihn herunter. Brutal zog er eines der Tabakstäbchen heraus und vollbrachte, dem Entfesselungskünstler Harry Houdini gleich, ein wahres Meisterwerk an gleichzeitiger Koordination. Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand umklammerten die Zigarette, wobei sich die Innenseite seiner Handfläche krampfhaft um sein Kinn schloss. In der linken hielt er mit dem kleinen Finger und dem Ringfinger die aufgerissene Zigarettenschachtel und versuchte mit den drei anderen Fingern sein Feuerzeug zu entflammen. Ständig drehte er sich mit dem Kopf hin und her, um mit seinen wallenden Haaren die stoßartigen Luftbewegungen des Windes, der beständig vom Genfer See her kommend Richtung Frankreich strich, zu mildern oder gänzlich zu stoppen. Schließlich gelang es ihm, seiner mit Tabak gefüllten Papierhülle ein glühendes Köpfchen zu verpassen, warf sein Haar in den Nacken, rückte seine Brille zurecht, zog so unnatürlich an seiner Zigarette, dass ich das Gefühl hatte, dass sich seine Wangen, wie die Körnchen einer Sanduhr, trichterförmig nach innen bogen, wobei er mir qualmend entgegenkrächzte: „Woher wissen Sie das?“
Die Frage kam schnell, zu schnell für seine vorhergehende Lockerheit. Es war eine Mischung aus Neugierde, Interesse, ja ich würde sogar sagen Respekt und Achtung mir gegenüber. Kurz und mit einem leichten Unterton der Überheblichkeit entgegnete ich ihm: „Bei dem Wenigen, was ich bis jetzt von Ihnen kennen gelernt habe, wäre es zu erwarten, dass Ihnen das am meisten auf die Nerven gegangen
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