GIERIGE BESTIE
zerbrochen war, und zwar wegen eines einzigen Umstandes: Er war alleine. In den Stunden der Ungewissheit und der Verzweiflung, den langen Nächten des Grübelns und der Hoffnung, den verregneten Sonntagen auf der Flucht, an denen er mit Sicherheit an die schönen Stunden seines Lebens dachte, konnte er nur mit sich selbst Schach spielen. Er konnte sich niemandem anvertrauen. Er konnte nichts mit niemandem teilen und die Macht der Verantwortung oder auch die Verantwortung der Macht haben schon manch große Persönlichkeit in ihrer Einsamkeit in die Knie gezwungen.
„Nein, ich will sie gar nicht haben, Dox. Aber Sie kennen meine Deals, wenn Sie mein Buch gelesen haben. ,Quid pro quo‘. Ich bekomme etwas anderes von Ihnen, nämlich Ihr Wissen, Ihre Kenntnisse über die Zusammenhänge, Entwicklungen von Leuten wie Sie, Querverbindungen und Schwachstellen, zeitliche Abläufe und Gegebenheiten in Institutionen wie der Ihren. Gedanken, Gefühle, Einstellungen, die Gedanken der Angst und des Hasses genauso wie des Glückes und der Macht, seit dem Tage, als Sie das erste Mal darüber nachdachten, sich eine einzige Information zu besorgen. Sie werden mir alles niederschreiben, auf Punkt und Beistrich, und vor allem all Ihre Informationen, wie man der artige Situationen und Fälle verhindern kann. Ihre persönliche subjektive Einstellung, Ihr Wissen über psychologische Sicherheitssysteme, Mängel in Personalakten, fehlende Kriterien beim Aufnahmeprozess. Alles, aber auch wirklich alles, was Sie darüber wissen. Das werden Sie mir geben. Aber die Daten, die will ich nicht. Ich betrachte Sie als Ansprechpartner und nicht als Gegner. Sie sind für mich ein Experte und kein Feind. So gesehen stehen Sie auf meiner Seite und nachdem Sie mir alles gegeben haben, kann ich versuchen, auch die Ihre zu verstehen.“
Ich schloss mein kleines persönliches Plädoyer mit den Worten: „Ich bin nämlich hier, um etwas zu verhindern und nicht, um jemand zu bestrafen.“
Mir schien, als war er zum ersten Mal verunsichert, das spürte ich.
Er wankte.
„Und was bekomme ich dafür?“, fragte er mich mit weit aufgerissenen Augen. „Was ist Ihre Verpflichtung?“
„Das Einzige, Herr Dox, was ich Ihnen anbieten kann, ist eine geänderte Betrachtungsweise Ihrer Zukunft, die wir aber entweder gemeinsam gehen oder gar keiner geht sie. In diesem Fall sind entweder alle zufrieden oder keiner ist es. Solange ich hier mitspiele, hat niemand ein Ass im Ärmel. Es wird entweder offen gespielt oder gar nicht.“
Ich drehte mich um, blickte ihn an und hielt ihm relativ rasch meine Hand hin. Er zögerte ein wenig, ergriff die meine und blickte mich dabei sehr durchdringend an. Jetzt erkannte ich, dass seine Hand sehr kalt war und er zwei Eheringe trug, so wie El Presidente, dachte ich mir.
sechzehn
„Workplace Violence“ – ich begann mir den Mann, der vorher vom Golduhrenträger etwas zu rasch angeblickt worden war, genauer anzusehen – „ist im Allgemeinen nicht das, was es zum Ausdruck bringen soll. Es ist nicht die Regel, dass wir es mit Gewalt am Arbeitsplatz zu tun haben. Wiewohl das auch manchmal vorkommen kann.“
Ich ahnte zu diesem Zeitpunkt selbstverständlich noch nicht, dass dieser Satz nur wenige Monate später in einem Schweizer Bankinstitut zur traurigen Realität wurde, als ein Mitarbeiter während einer Sitzung zwei seiner Vorgesetzten mit einer eigens dafür mitgebrachten Schusswaffe liquidierte.
„Unter Workplace Violence verstehen wir nicht den Umstand, dass nach einer etwas länger dauernden Weihnachtsfeier sich zwei Mitarbeiter zuweilen im unteren Kellergewölbe einer Institution eine handgreifliche Auseinandersetzung liefern. Nein, unter Workplace Violence, El Presidente, ist der Umstand und eine Handlung zusammengefasst, die einen anderen Mitarbeiter, einen Vorgesetzten, ein Mitglied der Geschäftsleitung, des Aufsichtsrates oder einen beziehungsweise mehrere Aktionäre binnen kürzester Zeit in eine extreme Belastungssituation bringen kann, weil, und das ist der Hintergrund der Definition, am Arbeitsplatz ein anderer Mitarbeiter eine höchst destruktive Handlung gesetzt hat. Anonyme E-Mails und Briefe, komplexe und vorsätzliche Mobbing-Handlungen“ – ich vermeinte bei der Verwendung des Wortes Mobbing den Anflug eines gewissen Lächelns auf manchem Gesicht einiger Anwesenden beobachtet zu haben – „sind genauso als Workplace-Violence-Handlungen zu verstehen wie Nötigungen, Erpressungen und die Mitnahme
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