GIERIGE BESTIE
ist. Mich hat es jedenfalls extrem irritiert, obwohl ich nur sehr kurzzeitig Gast in dieser Institution war, in der Sie jahrelang die elektronischen Geschicke geleitet und auch umgesetzt haben.“ Und fast nahtlos ergänzte er den Satz: „Bis zu dem Zeitpunkt, als sich einiges zu ändern begann.“ Nun nützte ich seine Bemerkung, um etwas Ruhe in das Gespräch zu bringen. Ich wandte mich ab, lehnte mich mit beiden Unterarmen auf das rautenförmige Eisengitter und tastete mit meinem Blick den immer dunkler werdenden See ab. Vielleicht in der Hoffnung, dass aus der fast unheimlichen Tiefe der nunmehr entscheidende Satz auftauchen würde, wie ein kleines Luftbläschen, das sich, aus zig Metern Tiefe den Druckverhältnissen im Wasser entsprechend, immer weiter ausdehnt und größer wird, wie ein kleiner Fallschirm, zunächst sehr langsam und dann immer schneller werdend, den Weg nach oben bahnt.
„Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas auszureden. Ich bin auch nicht hier, um von Ihnen etwas zu verlangen. Ich bin ausschließlich hier, um etwas zu verstehen. Ich würde gerne von Ihnen Antworten hören, auf Fragen, die nur Sie mir beantworten können, und ich möchte ein paar Stunden oder vielleicht Tage meines Lebens mit Ihnen gemeinsam gehen, weil es für mich schöner ist, einen Menschen zu verstehen, als über ihn zu richten“, zitierte ich abschließend Stefan Zweig.
Erstaunt blickte er mich an, zog an seiner Zigarette und meinte: „Aber die Daten gebe ich nicht her. Niemals!“
Dieser Satz war der einzige, den ich mit einer absoluten Sicherheit erwartet hatte. Auf ihn war ich auch vorbereitet. Immer und immer wieder hatte ich mir die Frage gestellt, was ich sagen würde, wenn er das Heiligste, was er jetzt besaß, nicht hergeben wollte. Was für mich zwischenzeitlich mehr als nachvollziehbar war. Es war – man konnte es drehen und wenden, wie man wollte – schlussendlich das Einzige, was er noch besaß. Es war, bildlich gesprochen, der letzte weiße Fleck auf seiner persönlichen Landkarte. Es war das Niemandsland für jeden anderen, sein eigenes emotionelles Refugium. Es war wie das vergilbte Bild für den Soldaten im Schützengraben, der letzte Brief seiner Geliebten, den wohl jeder im Kriege hundert und hunderte Male gelesen hatte. Den Inhalt bereits auswendig kannte, aber den er jedes Mal wieder zusammenfaltete und wie einen ganz persönlichen heiligen Schatz in seiner Brusttasche versteckte. Weil in seinem Fall alles einem persönlichen Motiv entsprang und keinem materiellen. Ich hatte es aber auch immer und immer wieder erlebt, dass Täter exorbitante Summen in solchen Fällen verlangten. Was Ello Dox nie tat. Aber auch in jenen Fällen waren sehr häufig persönliche Kränkungen, Demütigungen und emotionelle, extrem belastende Situationen die Ursache dafür gewesen. Manche glaubten durch die Übergabe von prall gefüllten Reisetaschen mit bedrucktem Spezialpapier aus irgendwelchen Nationalbanken, sich die Kränkungen und Demütigungen abgelten zu lassen. Es war in den meisten Fällen nur der verzweifelte Versuch, aus der subjektiven Sicht die Verursacher zu demütigen.
Auf Demütigung mit Rache zu reagieren, was in den meisten Fällen auch misslang. Juristisch gesehen nötigte Ello Dox – ja man konnte ihn sogar als Erpresser bezeichnen. Psychologisch gesehen war er einfach nur verzweifelt. Aber so wie in den meisten Fällen Recht nicht in Gerechtigkeit mündet, ist die juristische und psychologische Betrachtungsweise von derartigen Fällen bei der ersten Betrachtung meist nicht kompatibel.
„... ein klarer Auftrag: Daten sichern oder vernichten und Ello Dox der Justiz zuführen!“
„Ich weiß, und ich sage es Ihnen ganz ehrlich, ich will sie auch gar nicht haben und schon gar nicht will ich wissen, um was für Daten es sich überhaupt handelt. Ich will sie nicht sehen. Ich will nicht wissen, wo sie sind und ich will sie schon gar nicht besitzen. Sie würden mein Leben, lieber Dox, viel zu sehr belasten.“
Ich weiß nicht, wie oft ich diese Passage geübt hatte. In Tonlage, mit allen dramaturgischen Pausen, mit ernstem, wütendem, zornigem und gelassenem Gesichtsausdruck. Ich probte und übte es immer und immer wieder, in der festen Überzeugung, dass er unter der Last der Daten in all den Wochen und Monaten seiner Flucht mit Sicherheit schon manchmal zu ächzen und zu stöhnen begann. Vielleicht sogar schon einmal in der Nacht schweißgebadet aufgeschreckt, möglicherweise schon einmal daran
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