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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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Wertvollste wieder zurückzuerhalten, was sie besitzt: ihr eigenes Kind. Warum hat man ihr das Kind weggenommen? Zu viele Gedanken meiner eigenen Erinnerung an Entführungen und Mord, an sinnlose Verbrechen, die an kleinen Kindern, ja sogar Neugeborenen, begangen wurden, die ich gesehen und analysiert hatte, überkamen mich abermals in diesem Augenblick. Gerade als ich mit einer grenzenlosen Direktheit über das Negative des Menschen hinwegziehen wollte, begegnete sie mir leise aber bestimmt. „Nein, es ist nicht so. Dieses Gemälde ist, sofern man alle Fakten kennt, sofern man in der Lage ist, hinter das Gemälde zu blicken, die schönste Darstellung eines der schönsten Geschenke, die ein Mensch geben kann. Es ist etwas, was hinter dieser Farbe liegt, das durchdringend ist, das durch dieses Gemäuer, durch die Steine, durch die Kirche hindurch nach außen dringt. Durch dieses Tal und durch das ganze Land. Es ist eine Eigenschaft, die viel mächtiger ist, als etwas zu nehmen, zu zerstören. Es ist etwas, das so nachhaltig viele Dinge positiv beeinflussen kann. Es ist ganz einfach der Verzicht.“
    Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Ich hatte mir immer eingebildet, mit einer professionellen Objektivität und analytischen Kühle an objektive Fakten heranzugehen, diese zu analysieren, um daraus nachvollziehbar objektive Ergebnisse zu liefern. Und jetzt saß ich in einer Kirche und ein altes blindes Weiblein erklärte mir, dass es darüber hinausgehend noch eine andere Betrachtungsweise gab, die viel tief greifender gehen kann als die objektive Sicht der Fakten. Ich war erstaunt, vielleicht sogar etwas ungehalten.
    Ihr Gesicht war dem Altar zugewendet. Als ob sie das Gute nicht suchen müsste. Sie wusste, wo es war. Sie sprach zu mir, obwohl ich nicht in ihrer Blickrichtung saß. Mit ihrer linken Hand zog sie kleine Kreise in der Luft und begann mir jedes Detail aus dem Gemälde zu erläutern, als ob sie es selbst gemalt hätte. Erstaunt, überrascht, ja fast versteinert saß ich hier und lauschte dieser leisen, einfühlsamen Stimme, aus der ich zunächst Folgendes vernahm.
    „Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Frau ihr Kind liebt. Sie liebt es abgöttisch. Sie möchte es wiederhaben. Aber der Mann mit dem Säbel hat es ihr nicht weggenommen. Das ist das Trügerische an diesem Bild. Und was Sie auch nicht sehen können“, fuhr sie fort, „ist, dass die Mutter selbst auf ihr Kind verzichtet. Das ist die Metapher dieses Bildes. Dass ich manchmal auf etwas Höheres verzichten muss, um etwas noch Höheres zu erreichen.
    Vielleicht haben Ihr Kummer, Ihr Zorn, Ihre Verzweiflung und Ihre Erinnerung Ihnen den Blick für die Details genommen. Vielleicht haben Sie nicht alles gesehen. Vielleicht haben Sie nicht erkannt, dass Sie mit allem, was Sie tun, damit gleichzeitig bei anderen etwas auslösen. Aber all das, was Sie in den letzten Stunden für dieses Gemälde, für dieses Bild empfunden haben, kann doch auch nur Ausdruck dessen sein, was Sie im Laufe Ihres Lebens erfahren haben. Sie müssen sehr viel negative Dinge in Ihrem Leben gesehen haben.“
    Bei diesen Worten wendete sie ihren Kopf und blickte mich an. Ich konnte sie noch immer nicht deutlich erkennen, denn noch immer standen mir Tränen in den Augen und verhinderten, dass ich in der Lage war, meine visuelle Wahrnehmung in jener Schärfe durchzuführen, die notwendig ist, gerade wenn man die Gesamtschau betrachten möchte.
    Ich kam mir wie ein kleines Kind vor, dem das Christkind ein neues Mikroskop gebracht hatte und in der Ungeduld, in der maximalen Vergrößerung die Miniaturausgabe eines Wasserflohs, der zwischen zwei Glasplättchen eingezwängt ist, zu beobachten, durch das Monokel starrt und dabei nur auf einen verschwommenen braunen Fleck blickt. Unfähig, geduldig am Rädchen für die Entfernung zu drehen, um jene Einstellung zu erhalten und tatsächlich in die kleinsten Details des Lebens vordringen zu können. Ungeduldig wischte ich mir nun mit dem Handrücken beide Augen aus und starrte der Frau ins Gesicht. Jetzt erkannte ich, dass meine Schlussfolgerung richtig war.
    Ihre Augen waren durchgehend matt weiß, aber erstaunlicherweise verlieh diese physiologische Eigenschaft im Zusammenhang mit ihrer Größe und ihrer braunen Gesichtsfarbe eine geradezu kosmische Tiefe. Auf ihren Lippen spiegelte sich ein leichtes Lächeln. Sie blickte zu mir, als ob sie genau wusste, wo ich war. Sie war blind.
    „Eine andere Frau, wissen Sie, eine andere Frau, die

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