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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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ihren Augen etwas nicht suchen können, die sich zwar mit tatsächlicher Sicherheit durch Räume, Gänge, ja teilweise über Gehsteige und Straßen bewegen, sich dabei aber meist gerade an jenen Plätzen, die ihnen nicht zu vertraut sind, einer Art fühlenden Instruments bedienen – eines weißen Stocks. Diese alte Frau trug keinen, aber ich war mir jetzt sicher, dass sie blind war. Zielsicher bewegte sie sich über den Boden, ertastete mühelos mit den Spitzen ihrer riesigen Filzpantoffeln kleine Stiegen und Absätze, wich den Kanten des Altars und des Chorgestühles genauso geschickt aus, wie sie scheinbar zielsicher auch jenen Karabinergriff, der den Abschluss der roten Kordel bildete, ergriffen hatte. Vielleicht war es aber dieser Umstand, dass diese Frau mich nicht sehen konnte, der mich daran hinderte, vor mir selbst eine Entschuldigung zu suchen, warum ich derart emotionell reagiert hatte. Dieses Gemälde in seiner Detailgenauigkeit, die ausdrucksstarke Handhaltung der Frau, die so hilflos nach ihrem eigenen Kind griff, die allmächtige Gestalt des Schlächters, der, das Mordwerkzeug schwingend und über Leben und Tod entscheidend, sich vor der Frau aufrichtete.
    Die Verzweiflung, ja die in allen Details dargestellte Hilflosigkeit, hatte mich offensichtlich an zu viele Dinge erinnert. Warum die Kinder? Warum immer die Kinder? Diesen Satz musste ich in meinem erbärmlichen Zustand ständig wiederholt haben. Die alte Frau hatte es mir bestätigt. Diese beiden Sätze mussten über die Holzbalustrade, über den Altar hinweg durch die Scheiben, ja sogar durch die kleinen Ritzen des Mauerwerks, nach außen gedrungen sein und das sensible Ohr einer blinden Frau beim Freihalten der Kieswege alarmiert haben. Sie kannte die Geschichte dieser Kirche. Die Geschichte des Dorfes. Sie kannte die Geschichte des Malers, der das Bild gemalt hatte und sie kannte den Inhalt.
    „Kommen Sie“, sprach sie abermals. „Kommen Sie und sehen Sie es sich noch einmal ganz genau an. Erschrecken Sie nicht. Es ist eine Metapher. Er will das Kind nicht töten. Er tut nur so, um herauszufinden, wer die Unwahrheit sagt. Kommen Sie zu mir und setzen Sie sich hier auf diesen kleinen roten Schemel. Von hier aus haben Sie einen schönen Blick auf das Gemälde. Von hier aus haben Sie die Gesamtsicht. Es ist nicht gut, wenn man Dinge nur von einer Seite betrachtet.“
    Die Worte der alten Frau waren leise und hallten ein wenig im Mittelteil der Kirche. Das war aber nur der physikalische Teil. Was noch viel mehr hallte, war nicht die Lautstärke, sondern der Inhalt. Plötzlich verspürte ich eine Art Vertrautheit mit dieser alten Frau, aus der offensichtlich eine Art innere Zufriedenheit, ja geradezu offensichtliche Weisheit sprach. Gedankenversunken wiederholte ich ihren letzten Satz. „Es ist nicht gut, wenn man Dinge nur von einer Seite aus betrachtet.“ Er erinnerte mich an das alte chinesische Sprichwort mit den Betrachtungsweisen der drei Seiten. Ich kannte dieses Zitat, war mir aber sicher, dass diese Frau, die hier vor mir stand und in ihrer Bescheidenheit über Dinge sprach, solche Erkenntnisse nicht gelesen, sondern erlebt hatte. Die Knie schmerzten, als ich mich aufrichtete. Aber ich wollte der Einladung der alten Frau unbedingt Folge leisten und humpelte zum kleinen Holzgeländer über eine kleine hölzerne Stufe nach oben und nahm auf jenem Schemel Platz, den sie mit ihrer Rechten festhielt und, bevor ich Platz nahm, noch einmal zärtlich über den roten Samt streifte.
    Da saß ich nun und starrte abermals das Gemälde an. So wie vor zwei Stunden, als ich die Kirche das erste Mal betrat. Es gab nur zwei kleine Unterschiede. Jetzt war es nicht die emotionelle Verzweiflung, die mich überkam. Es war nicht die Trauer oder die innere Frage: „Wo bitte ist hier ein Gott, wenn solche Dinge geschehen können?“ Es waren nicht diese Gedanken, die mich auf die Knie zwangen, um nach etwas Höherem Ausschau zu halten. Nein, jetzt saß ich auf einem kleinen Schemel in Begleitung einer alten blinden Frau und starrte das Gemälde abermals an. Jetzt war es mehr Zorn, der in mir hochstieg, und ich ließ mir viele Fragen durch den Kopf gehen. Warum die Kinder? Warum immer die Kinder? Was hat diese Frau getan, dass man ihr das Kind weggenommen hat? Diese Verzweiflung, diese unglaubliche Bitterkeit. Diese Frau, so wie sie hier dargestellt ist, würde alles dafür geben, ihren Körper, ihre Gesundheit, ihre Seele, ja sogar ihr Leben, um das

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