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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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Aber ich mag es nicht, wenn andere Menschen verzweifelt sind.“
    So plötzlich, wie sie neben mir stand, verschwand sie auch wieder. Ich war auf einmal alleine, aber nicht mehr einsam. Den Unterschied dieser beiden Dinge hatte ich selten so deutlich verspürt wie in diesem Augenblick.

dreiunddreißig
    11. Mai 2005, 00.45 Uhr, Genf. Seine letzten von ihm so gestochen scharf in mein Gesicht skizzierten Worte „... dass es irgendjemand oder irgendetwas gibt, was meinen Schmerz der Erniedrigung, des Zusammenfallens meiner eigenen Persönlichkeit und der Vernichtung meines eigenen Lebens lindern oder gar aus der Welt schaffen kann, ich sage nein ...“ hallten wie das Echo an einer riesigen Felswand am Ende eines Tales in meinem Kopf wider, in einem Tal, aus dem es schier keinen Ausweg gab.
    „Doch, es gibt etwas. Es gibt etwas, das dir jeglichen Schmerz nimmt und zugegebenermaßen unter vielen Entbehrungen eine vernünftige, ausgeglichene, ja sicher sogar glückliche Zukunft bescheren wird.“
    Ich hatte nichts mehr zu verlieren, also sprach ich ihn jetzt sehr persönlich an, wollte jede Distanz unterlaufen, um so nah wie möglich an ihn heranzukommen. „Dein Hass, deine Wut und dein Zorn haben dich blind gemacht. Du erkennst nicht mehr die Möglichkeiten, die du selbst hast.
    Antworte ihnen allen mit einem gigantischen Aufschrei der Vernichtung, und du wirst kurzzeitig Erleichterung erfahren. Aber jede Minute, die vergeht, vom eigentlichen Akt der Vergeltung, wird dich noch tiefer in ein schwarzes Loch hineinführen, aus dem du mit Sicherheit nicht mehr heraus kannst. Du wirst zum Gejagten all jener, die du demütigen wolltest, und wenn du am Schluss erkennst, was du angerichtet hast“ – jetzt versuchte ich ihm Friedrich Schillers Zitat von der zu späten Erkenntnis des Bösen so leidenschaftlich und schwer wie nur möglich auf seine Schultern zu legen –, „dann zum ersten Mal, mein lieber Ello, wirst du dich fühlen wie der lebendig Begrabene am Kirchhof oder der Selbstmörder, der bereut, aber den tödlichen Sprung bereits getan hat.“
    Als ob ich ihn mit meinen Worten noch mehr erschreckt hatte als er mich, zog er seinen Kopf unmerklich, aber doch ein wenig zurück. Er starrte mich weiter an und aus dem Hass war gehässige Neugierde geworden.
    „Geh deinen Weg der Vernichtung und vernichte dich selbst dabei. Bring die Welt in Aufruhr, weil du glaubst, das Werkzeug dafür zu haben. Steh auf und geh den Weg mit jenen, die dich verletzt und gekränkt haben, und mit einem einzigen Schlag bist du einer von ihnen geworden.
    Du sagst, es gibt nichts, was deinen Schmerz lindern kann? Du vermeinst die Wahrheit in Händen zu halten, indem du sagst, es gibt nichts und niemanden, der dir die Sinnhaftigkeit zurückgeben kann? Dann irrst du dich, mein lieber Freund, sehr wohl gibt es noch etwas, das weit mächtiger ist als all deine gestohlenen Daten zusammen.“
    Er zögerte, wendete den Kopf ein wenig zur Seite und flüsterte nur ein Wort:
    „Was?“
    In einer Tonlage, als ob er dem eigenen Schicksal die letzte Möglichkeit geben würde, die Waagschale seines Lebens so oder so ausschlagen zu lassen.
    Trotz der Kühle der Nacht, trotz der Unfähigkeit, mich zu bewegen, obwohl ich, in meiner lächerlichen Position rückwärts über das Geländer gebeugt, in das kalte Schwarz des nächtlichen Himmels blicken konnte, glühte ich innerlich und schwitzte. Sein gesamter Zornesausbruch und seine schicksalhafte letzte Geste lasteten so schwer auf meinem Hals, dass ich, wahrscheinlich ähnlich einem Drosselungsopfer, aus dem letzten Teil meiner Lunge noch hervorpresste:
    „Der Verzicht! Du musst verzichten. Es ist die einzige Möglichkeit, all jene zu demütigen, die dich verletzt haben und ihnen nicht die Chance der Freude zu geben, dass sie richtig handelten, weil du ihnen jetzt mit einer Geste der Vernichtung die Bestätigung dafür geben würdest. Mit dem Verzicht schonst du all jene, die nichts damit zu tun haben, und mit dem Verzicht erreichst du etwas Höheres, obwohl du auf etwas sehr Großes verzichten musst.“
    Ich konnte nicht mehr. Ich kroch förmlich einen Schritt zur Seite, richtete mich auf, drehte mich um und stützte mich mit beiden Armen am Geländer ab. Jetzt hatte ich genug. Ich starrte nur mehr auf die dunkle Wasseroberfläche und verlor mich in leeren Gedanken, ohne Inhalt und ohne Ziel. Es war, als ob sich für mich in diesem Augenblick die eigene persönliche Muschel schloss, den weichen Kern

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