GIERIGE BESTIE
nach hinten gebeugt, schon verdächtig weit über der Brüstung befand. Manchmal begannen sich meine Schuhe am Asphalt schon nach Halt umzusehen, damit ich nicht das Übergewicht verlor, und über diesen Kriminalpsychologen gebeugt stand ein schnaufendes, prustendes und rauchendes hünenhaftes Genie, das in seinem gesamten Habitus nur eines zum Ausdruck bringen wollte: Jetzt ist es genug.
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Vor einigen Jahren herrschte Aufregung, Bestürzung, Trauer, Wut und Verzweiflung über einen unbekannten Todesschützen, der im Großraum Virginia und Washington D. C. über Wochen hinweg die Menschen in Angst, Furcht und Schrecken versetzt hatte. Immer wieder attackierte er mit einer Hochgeschwindigkeitswaffe Menschen, die ihrer täglichen Routine nachgingen und mit ihren Autos zur Arbeit fuhren beziehungsweise an einer der zahlreichen Tankstellen auf der Interstate Nr. 5 ihr Auto mit Benzin oder Diesel befüllten. Einige der Opfer wurden verletzt, zahlreiche jedoch getötet. Bald hatten diese Schussattentate eine Dimension erreicht, dass sich unterschiedliche Experten in Talkshows und täglichen Fernsehsendungen die Klinke in die Hand gaben. Von möglichen weiteren terroristischen Aktivitäten und Angriffen auf das Herzstück der Vereinigten Staaten wurde gesprochen. Angeblich irregeleitete Vietnamveteranen mit klaren Symptomen von „Posttraumatic stress-disorder“ wurden ebenso als potenzielle Täter in die Öffentlichkeit gezerrt wie scheinbar vollkommen unkontrolliert gewordene Serienmörder, die auch in zahlreichen anderen amerikanischen Städten ihre Nachahmung fanden. Die kriminalpsychologische Analyse brachte ein sehr klares Motiv aus der Handlung hervor: Macht.
Macht darüber zu besitzen, über Leben und Tod entscheiden zu können.
Die Art und Weise, wie ein Mensch getötet wird, spricht eine klare Sprache über die Motivationsebene desjenigen, der die Tötungshandlung begeht. Es ist ein großer Unterschied, ob ich einen anderen Menschen manuell erwürge, indem Hass, Wut und Aggression mich dazu treiben, einen anderen Menschen von Angesicht zu Angesicht vom Leben in den Tod zu befördern, oder indem ich mit einer Hochgeschwindigkeitswaffe aus 70 oder 80 Meter Entfernung auf einen mir vollkommen unbekannten Menschen schieße. Der Blick durch das Zielfernrohr, die Miniaturausgabe eines anderen Menschen, der sich puppenhaft vor meinem Fadenkreuz bewegt und der Zeigefinger am Abzug sind der Garant dafür, dass derjenige, der durch das Zielfernrohr blickt, ein scheinbar klar umrissenes Motiv sein Eigen nennt – Macht. Da rüber entscheiden zu können, ob ein Mensch stirbt oder nicht. Und mit jedem Schuss, der in diesem Zusammenhang abgegeben wurde, mit jedem Opfer, das tödlich verwundet zu Boden fiel, steigerte sich diese Macht zu Allmachtsphantasien.
Jeder Tag, der verging, wo man den scheinbar unsichtbaren Todesschützen nicht fassen konnte, machte ihn aus seiner Sicht nur noch gefährlicher, aber vor allem mächtiger. Für manche Menschen ist Macht eine Droge. Ein berauschendes psychologisches Instrument, um sich selbst zu erhöhen. Die Kunst dabei ist die Droge zu verwenden, ohne jemand anderen dabei zu erniedrigen. Zweifelsohne finden wir den Machtgedanken immer wieder – in der Arbeitswelt, im privaten Bereich, in der Erziehung. Ganz sicher jedoch bei jenen Fällen, wo es um Demütigung und Erniedrigung geht.
Nochmals: Eines der höchsten Güter, das wir besitzen, ist die Freiheit das zu tun, was wir tun wollen. Diese Freiheit hört jedoch dann auf, eines der höchsten Güter zu sein, sobald wir damit beginnen, die Freiheit eines anderen einzuschränken. Gerade das ist aber immer der Fall, wenn ein Ungleichgewicht entsteht und der Mächtige sich manchmal absichtlich einen Schwächeren sucht, um sich eine vermeintlich bessere oder höhere Position zu verschaffen.
Der Todesschütze von Washington agierte nicht allein. Sie waren zu zweit. Der eine fuhr, der andere schoss. Dadurch war es ihnen auch möglich, rasch und relativ unerkannt von jenen Tat orten wieder wegzukommen, von denen aus der Schuss abgegeben worden ist. Der Schütze lag im Heck des Fahrzeuges, mit einem Loch neben der Kennzeichentafel, aus dem heraus die tödlichen Schüsse abgefeuert wurden, unbemerkt von äußerlichen Blicken. Ein zusätzlicher Planungsgrad in der Machtkomponente. Eine höchst gefährliche Kombination.
Dieser Fall kam mir plötzlich in den Sinn, als ich, in meiner schier ausweglosen Situation über das
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