GIERIGE BESTIE
Sie hier nicht sehen können, hat ihr das Kind weggenommen, und diese hier, die Verzweifelte, war darüber in Zorn geraten, hat die Frau angeklagt. Daraus war ein wilder Streit entstanden. Beide Frauen nahmen das Recht für sich in Anspruch, dass das Kind ihr Eigen war. Jeder zerrte und zog und schlussendlich wusste kein Außenstehender mehr, wer tatsächlich die Mutter des kleinen Buben war. Da der Streit nicht ewig so weiter gehen konnte, wandten sich beide an einen Richter, mit der Bitte, ihnen Recht zu geben. Abermals trugen beide ihre Argumente vor. Aber je mehr der Richter auch Fragen stellte, desto unwahrscheinlicher wurde es für ihn, auch Recht zu sprechen. Er glaubte beiden, er glaubte beiden nicht. Er musste urteilen und dadurch gleichzeitig auch eine der beiden verurteilen. Kraft seines Amtes aber musste er eine Entscheidung treffen. Er konnte das Kind ja nicht teilen.“
Ungeduldig fiel ich ihr ins Wort. „Aber das ist ja genau das, was hier abgebildet ist. Ein Mann hält das Kind hoch und schwingt mit einem grässlich großen Säbel, als ob er das Kind in der Mitte durchhacken möchte.“
„Ja, da haben Sie Recht“, entgegnete sie. „Dieser Mann tut das auf Anordnung des Richters, denn die Anordnung alleine, die Andeutung, dass so etwas passieren könnte, muss etwas auslösen. Vor allem bei jenem Menschen, dem das Kind tausend Mal mehr wert ist als alles andere auf der Welt, der eigenen Mutter. Sie wird das Kind verteidigen bis zum Schluss, mit Händen und Füßen, mit ihrem Leben. Sie wird wimmern und jammern. Aber wenn sie erkennt, dass es sinnlos ist, wird sie zum letzten Mittel greifen.“
Langsam dämmerte mir, auf was die alte Frau hinaus wollte. Aber wollte sie wirklich auf etwas hinaus? Oder waren es schlichtweg Lebenserfahrung und Weisheit, die aus ihr sprachen? War es nicht die Weisheit des Malers, der verewigte, was andere nicht sehen wollten? Hätten hundert Vorträge oder tausend Bücher aus gereicht, um dieses komplexe Zusammenspiel zwischen Geben und Nehmen, zwischen Bescheidenheit und Gier, zwischen Hoffnung und Verzweiflung so darzustellen wie in diesem Gemälde? Grün ist die Farbe der Hoffnung, aber es ist gleichzeitig auch das Merkmal für Neid, Gier und Habsucht. Es bleibt jedem selbst überlassen, was er hineininterpretiert und was er darunter versteht. Jeder hat selbst die Freiheit, die Umstände und Fakten hineinzudeuten, wie es ihm beliebt. Die Frage ist nur: Bezieht er auch das mit ein, was er sehen möchte und auch das, was er nicht sehen möchte? Nur weil wir die gleiche Sprache sprechen, verstehen wir noch lange nicht das Gleiche. Kinder verzichten täglich, vor allem auf Zeit. Wie oft tun wir es?
zweiunddreißig
Wäre der Maler dieses Bildes in der Lage gewesen, auch hundert Seiten über das Wort Verzicht zu schreiben, er wäre mit Sicherheit nicht so nachhaltig zum Kern dieses Wortes vorgestoßen wie mit diesem Gemälde. Aber ich hatte es nicht verstanden.
„Im letzten Augenblick“, flüsterte die alte Frau, „und das ist die Momentaufnahme dieses Bildes, als der Schlächter des Richters zuschlagen wollte, um das Kind in zwei Teile zu hacken, richtet sich die wirkliche Mutter in einem letzten verzweifelten, erbarmungswürdigen Geschrei auf und bittet den Henker, innezuhalten und die Worte, die auf diesem Bild so stumm über die kalte Mauer der Kirche fließen, waren: ‚Ich verzichte. In Gottes Gnaden, tun Sie dem Kind nichts. Ich verzichte.‘ – Sie verzichtete auf das Wertvollste, um das noch Wertvollere zu retten.“
Es entstand eine lange Pause. Die Alte drehte sich um, schlurfte zum Altar, kniete nieder und bekreuzigte sich. Ich war beschämt. Ich hatte mir immer eingebildet, eine gewisse Lebenserfahrung zu besitzen. Ich prahlte damit, auf der Straße aufgewachsen zu sein, die Gesetze des Lebens auf der Straße erkannt und verinnerlicht zu haben. Jetzt erkannte ich, dass ich noch viel zu wenig wusste. Ich wollte die Worte von Sokrates nicht in den Mund nehmen, nicht einmal daran denken: Ich weiß, dass ich nichts weiß, denn es wäre die personifizierte Arroganz gewesen. Abwechselnd blickte ich zur alten Frau und zum Gemälde. Plötzlich machte sie kehrt, schlurfte bei der Kanzel vorbei und huschte in den hinteren Teil der Kirche. Sie verschwand schon fast im Finstern, als ich ihre Stimme noch einmal vernahm. „Sie waren verzweifelt, weil Sie unwissend waren. Bleiben Sie noch, ich verlasse Sie jetzt und verzeihen Sie mir, dass ich Sie gestört habe.
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