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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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schützend, abgeschottet von der Außenwelt, um in den eigenen geistigen persönlichen Tiefschlaf zu verfallen. Ich wollte nicht mehr reden, nicht mehr diskutieren, nicht mehr verhandeln und nicht mehr über Katastrophen nachdenken. Ich hatte getan, was ich tun konnte, und als ob meine geistige Müdigkeit seine eigenen existenziellen Fragen geradezu heraufbeschwören würde, vernahm ich plötzlich hinter mir seine Worte: „Ich muss jetzt nachdenken. Kommen Sie morgen um 6 Uhr wieder. Genau hierher.“ Und dann stürzte er über die Pont de la Machine in Richtung Norden, von dort, woher wir gekommen waren.

vierunddreißig
    Er war weg. Irgendwo auf der Nordseite der Pont de la Machine war er hinter dem Starbucks-Café in der Häuserzeile verschwunden. Ich stand da, immer noch mit den Händen am Geländer abgestützt, blickte zum Four-Seasons-Hotel hinüber und dann in den schwarzen See. Es gibt ab und zu Situationen im Leben, die kann man nicht planen, die kann man auch nicht vorhersehen, sie passieren einfach. Aber sie haben eine derartig nachhaltige Wirkung, dass aus einem vergänglichen Augenblick, deren wir tausende tagtäglich erleben und uns schon ein paar Stunden später nicht mehr daran erinnern, plötzlich eine nachhaltige Ewigkeit zu werden scheint, etwas Beständiges. 20 Minuten vor eins. Ich hatte die letzten dreieinhalb Stunden meines Lebens mit einem Menschen verbracht, den ich zuvor noch nie gesehen hatte, aber ich habe Dinge gehört, Situationen nachempfunden und Gedanken durchgespielt, die ich weder vorher und sehr unwahrscheinlich nachher noch einmal erleben werde. Eigentlich wusste ich immer noch nicht, warum er mich hierher nach Genf bestellt hatte. Wollte er einen Zeugen, der für ihn spricht, wenn er den letzten Weg vor seinem eigenen Gericht antreten müsste? Wollte er mich zum stillen Helfershelfer seines unglaublichen Rachefeldzuges machen? Ello Dox war gekommen und er war auch wieder gegangen und hatte den gleichen Weg benützt. Er wollte offensichtlich mit mir ein einziges Mal gemeinsam über die Pont de la Machine schreiten, von Norden nach Süden, so wie Hannibal über die Alpen. Es war, und davon bin ich felsenfest überzeugt, insbesondere eine symbolische Handlung. Aber jetzt war er weg.
    Er entließ mich mit dem Satz: „Ich will jetzt nachdenken.“ Nein, er sagte: „Er muss jetzt nachdenken“, darin liegt ein großer Unterschied. Verhalten ist immer bedürfnisorientiert. Er hat nicht gesagt, dass er es möchte – er muss. Also hatte ich offensichtlich am Rade seines Bedürfnisses gedreht. Er konnte gar nicht anders, als jetzt über gewisse Dinge nachzudenken.
    Wo sollte ich jetzt hin? Ich konnte nicht auf die Nordseite der Pont de la Machine gehen, um ihm vielleicht irgendwo in einer Häusergasse zu begegnen, unmöglich. Ich musste, ob ich wollte oder nicht, in die andere Richtung gehen. Was sollte ich jetzt tun? Man hatte für mich in einem der besten Häuser in Genf ein Zimmer reserviert, aber es war undenkbar, dort hinzugehen. Sollte ich jetzt in ein luxuriöses Hotelzimmer einziehen, mich frisch machen, ausruhen? Mich morgen in der Früh durch einen zarten Weckruf in französischer Sprache wecken lassen und mit gut gefülltem Bauch und geputzten Zähnen um fünf Minuten vor sechs auf der Pont de la Machine erscheinen, um ihn anzustarren und zu fragen, was seine Überlegung war? Sicher nicht.
    Nein, ich musste das Gleiche tun wie er: nachdenken. Der ganze Fall, die Örtlichkeit, die Persönlichkeit von ihm, der Auftrag und vor allem die Hintergründe und Erläuterungen, die mir Ello Dox in den letzten Stunden gegeben hatte, die mussten verarbeitet werden. Einem Tatort gleich, dessen Spuren, sofern sie richtig gelesen, in der Regel jene Antworten beinhalten, die wir brauchen, um ein Verbrechen lösen zu können.
    Das hier war keine Verhandlung, sondern ein Schicksal, es war kein Gespräch gewesen, sondern eine existenzphilosophische Abhandlung über Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft. Wenn ich mich jetzt in diesem Augenblick, nach diesen dreieinhalb Stunden in ein Hotelzimmer legen würde, mich selbst mit teuren Ölen und Seifen pflegen, um anschließend, in weichem Leinen gebettet, den Versuch zu unternehmen zu schlafen, dann hatte ich all die Jahre, wo ich die Gesetze des Lebens von der Straße aufgelesen hatte, umsonst verbracht. Dann war auch ich mit einer einzigen Handlung zu einem Teil jener geworden, die der Meinung sind, das Leben sei eine einzige

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