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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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Justiz zuführen ...“
    Das war ja gerade das Groteske an der gesamten Situation. Wie konnte ich ihn der Justiz zuführen, wenn ich noch keine Daten hatte, die ich ohne seine Mithilfe ohnehin nie bekommen würde, zumal ich sie persönlich gar nicht haben wollte? Ein wahrlich gordischer Knoten.
    Plötzlich klarte der Himmel wieder auf und ich entdeckte mich dabei, dass ich in den abschüssigen Straßen der Altstadt verzweifelt versuchte, über die Dächer hinweg zum See hinunterzuspähen. Vielleicht sah ich ihn irgendwo. Dann erreichte ich die Cathédrale St-Pierre, erklomm ein paar große Stufen und ließ mich unter den mächtigen Säulen nieder. Langsam wurde ich müde. Hatte Ello Dox mit seiner Biografie und seiner Vorgangsweise nicht auch ein warnendes Mahnmal über die Gier der Menschen an die Wand gepinselt wie ein eingemeißeltes Menetekel? Er hätte genauso gut erpressen können, für die Daten Geld verlangen – das tat er aber nicht. Er hatte ganz etwas anderes verlangt. Er hatte eben sein eigenes Gesetz für seine persönliche Ruhe, wenn er das erreicht hätte, was er erreichen möchte. Vielleicht weil uns die Zeit manchmal zu schnell dahinläuft, glauben wir, im bitteren Irrtum weiterleben zu müssen, dass es irgendwann einmal aufhören wird, wenn wir genug gesammelt oder zusammengerafft haben.
    Wenn wir diese Entscheidung, wann genug ist, nicht selbst treffen, wird sie nämlich nie eintreten. Jetzt fiel mir die Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral von Heinrich Böll ein, als der erfolgreiche Manager auf einer kleinen touristischen Ferieninsel, der Landessprache mächtig, einen dösenden Fischer, der in seinem Boot lag, zweimal fotografierte. Das blaue Meer, die weißen Schaumwände der kleinen Wellen, das grünlich gestrichene Boot und der dösende Fischer gaben für den stressgeplagten, Ruhe und Erholung suchenden Verantwortungsträger das ideale Urlaubsmotiv. Durch das Klicken der Kamera wachte allerdings der Fischer auf und der Erfolgreiche fragte ihn, ob er heute schon ausgefahren wäre. Der Fischer bejahte seine Frage und zählte mit einer Hand den Fang auf. Geübt, große mögliche Erfolge durch kleine Beiträge schnell darzustellen, erklärte ihm nun der Manager, dass, wenn er noch ein zweites Mal ausfahren würde, vielleicht sogar ein drittes Mal, er sich bei gleich bleibender Konsequenz und Beständigkeit vielleicht in einem Monat einen größeren Motor kaufen könne, damit könne er aber auch öfter und vor allem schneller ausfahren. Er könne weitere Fahrten unternehmen und damit noch mehr Fische fangen. In zwei, drei Jahren könne er sich ein größeres Boot kaufen, Leute einstellen. Früher oder später eine kleine Fangflotte sein Eigen nennen. Wenn er lang genug hart arbeiten würde, könnte er mit einem eigenen Hubschrauber die Fischschwärme ausmachen, Kühlhäuser bauen und Direktexport von seiner Insel in die Großstädte Europas organisieren, damit die Handelsspanne sein Eigen wäre. Fast überschlägt es dem erfolgreichen Geschäftsmann die Stimme beim Lauschen seiner eigenen Erfolgsgeschichte, und als er keinen Ton mehr hervorbringt, fragt ihn der Fischer: „Und dann?“
    Unverständnis wegen dieser Frage: „Und dann, dann können Sie voll Ruhe am Strand sitzen, vor sich hin dösen und die Sonne genießen.“
    Erstaunt hob in der Geschichte von Heinrich Böll der Fischer die Augenbrauen und meinte: „Aber das tue ich jetzt schon. Wenn Sie mich mit Ihrer Kamera nicht aufgeweckt hätten, würde ich jetzt noch dösen.“
    Heinrich Böll lässt seine Kurzgeschichte mit der Verwunderung des erfolgreichen Managers ausgleiten, indem er ihn von dannen ziehen lässt. So gesehen, eines Besseren belehrt.
    Wie viele Aspekte wies dieser Auftrag mit den Zusammenhängen und einzelnen Facetten der Biografie von Ello Dox eigentlich noch auf? Musste ich zwangsläufig um sechs Uhr in der Früh zur Kenntnis nehmen, dass er eigentlich gar nicht anders konnte, als den Pfad der Vernichtung zu gehen?
    Langsam dämmerte es. Ich stand auf, ließ meine Schritte durch enge Gassen der Altstadt, vorbei an einer schönen Kathedrale, an kleinen Brunnen und alten Steinhäusern, von den sorgfältig gelegten Steinwegen widerhallen. Ich marschierte langsam zum See zurück, sah mir den Jachthafen an, blickte immer wieder auf die Nordseite und hielt für mich eines fest: Dieser Fall war einzigartig, aber in seiner Einzigartigkeit repräsentierte er wahrscheinlich tausende Fälle. Seine Komplexität machte es

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