GIERIGE BESTIE
Vergnügungsreise, ein existenzieller Auftrag, im Schlaraffenland zu überleben, den eigenen Bedürfnissen und Trieben folgend, nicht links und rechts blickend, sich den leiblichen, geistigen und fleischlichen Genüssen alleine hingebend, um sich irgendwann die Frage zu stellen: „Was ist der Sinn des Lebens?“ Nein, das werde ich mit Sicherheit jetzt nicht tun.
Wenn ich dir nur halbwegs ebenbürtig sein will, Dox, dann werde ich wohl das Gleiche tun müssen. Mich nachts durch die Straßen dieser Stadt bewegen, in Hinterhöfe hineinschauend, auf Bordsteinkanten sitzend, den Kopf in die Hände gestützt, über das Gesagte und die daraus möglichen Schlussfolgerungen, über einzelne Personen und den Gesamtzusammenhang in diesem Fall und vor allem aber über mich selbst nachzudenken.
So, als ob ich meiner kleinen existenziellen Reise einen Schwung mitgeben wollte, stieß ich mich mit den Händen etwas kraftvoller vom Geländer ab, machte einen Schritt rückwärts und marschierte die Pont de la Machine Richtung Süden. Vielleicht waren es 18, vielleicht auch 20 Meter und dann betrat ich nach so langer Zeit, wenn ich es schon etwas philosophisch betrachten wollte, endlich wieder festen Boden. Ich betrachtete langsam die Erkenntnisse aus diesem Fall, auch als einen persönlichen Auftrag, über gewisse Dinge nachzudenken, ja fast in die innere Einkehr zu gehen.
War es nicht ein Auftrag, den mir Ello Dox gegeben hatte? Hatte ich nicht festgestellt, dass er allein mit der Tat, der Handlung, die er gesetzt hatte, in der Institution selbst und bei vielen der dort noch arbeitenden Repräsentanten etwas ausgelöst hatte? Bei den politisch Verantwortlichen, den Vertretern der Justiz, bei El Presidente und sicher auch beim Vizegeneraldirektor und seinem persönlichen Freund, dem Mann mit dem goldenen Uhrband? Er hatte etwas in Bewegung gesetzt.
Nichts und niemand konnte jetzt steuern, was die einzelnen handelnden Personen aus diesem kleinen Anstoß machten, aber ich wollte für mich etwas mitnehmen. Ich marschierte geradeaus über einen kleinen Platz bis zur Rue du Rhône und ging nach rechts bis zur Rue de la Cité. An der kleinen Bushaltestelle lehnte ein Chinese oder Japaner und sprach in ein winziges Telefon. So wie er bekleidet war und mit der Selbstverständlichkeit, mit der er in diesem Buswartehäuschen eventuell auf eine nächtliche Mitfahrgelegenheit wartete, konnte ich nicht annehmen, dass er Tourist war.
War nicht das bereits eine klare Botschaft von Ello Dox gewesen, die ich aufgrund dieses Falles kennen gelernt hatte? War Genf nicht ein klassisches Beispiel dafür, mit all seinen Sprachen, Nationalitäten und der internationalen Ausrichtung, den unterschiedlichen Kulturen, Einstellungen und Bedürfnissen, dass es auch anders gehen kann, dass es nicht immer und überall einzig und allein darum gehen kann, Kontrolle zu haben, Kontrolle auszuüben? Die ja so notwendige Individualität des Einzelnen durch das Auf zwängen eigener Regeln und Vorgaben einzudämmen und schlussendlich dem totalen Verfall preiszugeben? War nicht Ello Dox im Endeffekt der beste Mitarbeiter, den sich eine Institution hätte wünschen können? Er hatte mit Fleiß, eigenem Engagement und Zielstrebigkeit für seine Institution alles getan, nicht auf die Uhr geblickt, nicht sinnlos kritisiert, sondern inhaltlich all das umgesetzt, was sich jeder vernünftige Vorgesetzte hätte erträumen können. Ich überquerte die Straße und wanderte die Rue de la Corraterie hinauf, entlang des alten Stadtkernes in Richtung Süden.
Woran war es gescheitert? Dass lebenserfahrene und lebensbejahende Menschen wie El Presidente und der Generaldirektor die individuellen Fähigkeiten von Ello Dox nicht weiter unterstützten und förderten, stattdessen zuließen, dass diese Fähigkeiten und sein Freiheitsdrang im Endeffekt in Fesseln gelegt wurden und verkümmerten, wie die Kiemen von irgendwelchen Fischen, die sich im Laufe der Evolution langsam aber sicher auf das Land zubewegten? Vielleicht weil, aufgrund der schnelllebigen Zeit, der größeren Mobilität, der internationalen Ausrichtung und dem allgemeinen Trend folgend, 24 verschiedene Positionen auf einem Lebenslauf eines 32-Jährigen stehen müssen. Viele kurze Erfahrungen sind nicht gleichzusetzen mit einer langen, so wie eine lange nicht das gleiche Wissen hervorbringt wie jemand, der sich an verschiedenen Orten auf verschiedenen Erdteilen in verschiedenen Firmen bewegt hat. Nur beides gemeinsam ergebe
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