GIERIGE BESTIE
möglich, so viel daraus zu lernen und ich verfluchte innerlich meine sture Haltung, dass es keine Win-Win-Situation geben könne. Vielleicht gab es sie doch? Vielleicht.
fünfunddreißig
11. Mai 2005, 05.49 Uhr, Genf / Schweiz. Das Wasser war schwarz wie Öl und hätte die Sonne nicht genau hinter jenem Bäumchen, das in der Nacht noch auf einer indirekt beleuchteten Steininsel die erste Frühlingskulisse in den Himmel zeichnete, ihr erstes Licht in das Firmament gezeichnet und sich dadurch im Wasser gespiegelt, wäre der gesamte See wohl als unheimlich und undurchdringlich erschienen. Ein paar weiße gerade Linien, wieder einmal von Flugzeugen in luftigen Höhen in das zarte Morgenblau gezeichnet, fügten sich zu fast geometrischen Formen zusammen. Während sich manche Linien bereits auflösten, war eine weitere Linie gerade dabei, ähnlich einer unsichtbaren Pfeilspitze in den Himmel gezogen zu werden. Das erste Blau, die Kondensstreifen der Flugzeuge und die zart rosa angehauchten Wölkchen spiegelten sich in verschwommener Art und Weise in der Mitte des Sees wider. Eine Joggerin lief über die Pont de la Machine und im Hintergrund vernahm ich jenes bekannte Geräusch, das mich scheinbar immer wieder begleitet, wenn ich interessante Gespräche führe: das Gurren von Tauben. Hätte die junge Läuferin in ihrem sportlichen Gewande nicht ihre frühlingshaft balzende Betriebsamkeit gestört, man hätte meinen können, die Pont de la Machine wäre nunmehr von ein paar Tauben in Besitz genommen worden. Seelenruhig spazierten sie nun in der Mitte des etwa sechs Meter breiten Asphaltstreifens, pickten da und dort ein Körnchen oder eine Zigarettenkippe auf und wagten sich manchmal gefährlich nahe an den Rand, als ob sie vornüber in das schwarze Nichts des kalten Genfer Sees tauchen wollten.
Die Leuchtreklamen waren erloschen, der erste Morgenverkehr drang von der Pont du Mont-Blanc herüber und versprach hektische Betriebsamkeit für diesen Tag. Die Lichterkette, die noch vor ein paar Stunden den gesamten westlichen Teil dieses Sees eingerahmt hatte, war erloschen und die Glühbirnen hingen in fast unheimlicher Zwanghaftigkeit alle 50 Zentimeter an einem dünnen Stahlseil. Den Blick nach Osten gerichtet, schien es, als ob zwei unsichtbare Gegenstände das Wasser teilten und wiederum zwei in sich verkreuzte Dreiecke in das Wasser zogen. Es waren Blesshühner, die in stoischer Gelassenheit sich scheinbar auf nach Lausanne gemacht hatten. Ein Schwan, den Kopf im Gefieder versteckt, lag im Strömungsschatten jener zehn Steinpfeiler, welche die kleine Fußgängerbrücke trugen, die zwischen der Pont du Mont-Blanc und der Pont de la Machine das Four-Seasons-Hotel auf der Nordseite des Genfer Sees mit einer Privatbank auf der Südseite verband.
So schwarz und ruhig der See auch vor mir lag, so erleuchtet, aber noch viel ruhiger erschien mir nun mein Inneres. Sehr selten, aber mit Sicherheit nicht in dieser Gewissheit, hatte ich mir in einer derartigen Tiefgründigkeit Gedanken über mein Selbst, über meine Vergangenheit und Gegenwart, über meine Zukunft, ja über meine Ängste und Sorgen und über den Sinn in meinem Leben gemacht wie in den letzten acht Stunden. Ello Dox hatte mit seiner Handlung, aber vor allem mit der Art und Weise, der Vehemenz und der Deutlichkeit, mit der er sie verteidigte, in mir etwas ausgelöst. Es waren Gedanken des Selbstzweifels, aber auch der inneren Beunruhigung, des Hinterfragens der eigenen Wertigkeiten und sehr, sehr angenehme Aspekte von zukünftigen Betrachtungsweisen gewesen. Ich hatte schon Gespräche erlebt, da gab es selbst bei positivster Betrachtungsweise der Situation keinen einzigen Gedanken an die Zukunft mehr. Es waren zwar Gespräche der inneren Einkehr und der persönlichen eigenen Abrechnung, aber dieser Fall, dieses Gespräch, seine Gedanken und Überlegungen, aber auch meine Reaktion darauf waren wohl der beste Beweis für den greise und gebrechlich gewordenen Wesir Ptahhotep, der sich etwa hundert Jahre, nachdem die Pyramiden von Gizeh entstanden waren, zu Pharao Asosi begab, um ihm vorzuschlagen, sein Wissen an einen Nachfolger weiterzugeben. Damals entstand die erste schriftlich überlieferte Weisheitslehre, und Ptahhoteps 37 festgehaltene Maximen handelten von Ehrlichkeit, Geduld, Nachsicht und Höflichkeit.
In einem der eindrucksvollsten, in der menschlichen Geschichte wohl ältesten Überlieferung warnte er vor Arroganz: „Sei nicht hochmütig wegen deines
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