GIERIGE BESTIE
Wissens, sondern berate dich mit dem Unwissenden wie mit dem Wissenden.“
Ein fast 4.000 Jahre alter Satz, der heute Nacht definitiv auf Ello Dox zutraf. Er hatte sich mit einem Unwissenden getroffen, vielleicht auch beraten. Aber ich hatte definitiv die Gelegenheit, mit einem Wissenden zu sprechen und von ihm zu lernen. Ja, ich hatte definitiv die Gelegenheit gehabt, von ihm zu lernen. Denn kaum ein Gesprächspartner in meinem Leben war dem eigenen Abgrund, der eigenen Selbstaufgabe so nahe gekommen wie Ello Dox. Er hatte für sich abgeschlossen und war davon überzeugt, dass das, was er tun wird, das Richtige ist. Er hat für sich, seine Existenz, sein Leben, seine Gedanken und seine Zukunft nunmehr einen einzigen Sinn gesehen, die Daten, die er sich erschlichen hat, zu veröffentlichen. Er wusste genau, was er damit auslösen würde. Aber würden auch die Zeugen dieser Tat erkennen, was er damit erreichen wollte? Das war jener Punkt, der mich so nachdenklich werden, ja geradezu verzweifeln ließ.
Denn ich war und bin davon überzeugt, dass Menschen immer nur dann weise gehandelt haben, wenn sie alle Möglichkeiten und Optionen ausgeschöpft haben. Aber das harsche Offenlegen, der Skandal, die Erniedrigung, die Demütigung sind sicher nicht die letzte Option. Sie würden zweifelsohne von vielen als kurzfristige Erleichterung aufgenommen, als innere Zufriedenheit, als Vergeltung der Demütigung, aber sicher nicht als beständige Basis, an ihrem Zustand etwas zu ändern. Ello Dox war intelligent genug, um zu wissen, dass viele den Verrat herbeisehnen, dass all jene jedoch den Verräter hassen.
„Oh Herren, bedenkt, der euch die Tat in Auftrag gab, wird für die Tat euch hassen“ gab schon der Herzog von Clarence seinen beiden Mördern mit auf ihren Weg. Sie waren ja im Auftrag von dessen Bruder, dem Herzog von Gloster, nachmals König Richard III., in den Tower eingedrungen, um ihn zu töten. Shakespeare wusste es 350 Jahre später und Ello Dox wusste es definitiv auch. Spätestens an jenem Tag, an dem ihn viele auf den Thron als Befreier und Held heben würden, würden bereits einige von jenen, die am meisten gejubelt haben, daran arbeiten, ihn von diesem Thron wieder zu stürzen.
Die Gier nach Macht, Geld und Einfluss, Vergeltung oder Rache ist bei vielen tausend Mal stärker als ein einziger Gedanke – „Ich freue mich für dich“. Ello Dox wollte seine eigene Demütigung auf Dauer nicht ertragen. Er hat nicht resigniert und aufgegeben, er wollte, metaphorisch gesprochen, nicht wie ein angeschossener Vogel am Boden zerschellen. Er hatte begonnen, aus seiner Sicht rechtzeitig einen rettenden Fallschirm zu bauen. Und an dem Tag, als er begann, sein eigenes Schicksal in seine eigenen – in diesem Falle destruktiven – Hände zu legen, wurde er fast gnadenlos zum Werkzeug seiner eigenen Rache. Wer konnte behaupten, darüber urteilen zu können, ob seine Ansichten falsch oder richtig waren? Aber eines wusste ich genau: Sie waren getrübt. Er war in seiner ganzen Intelligenz gezeichnet von innerem Schmerz, von der Verzweiflung, keinen Ausweg mehr zu sehen. Von der Einsamkeit, mit niemandem mehr sprechen zu können. Er wollte in einem gigantischen, aufbäumenden letzten Schrei all jenen, die er noch nicht getroffen, denen er aber trotzdem über Monate und Jahre etwas sagen wollte, all jene Inhalte entgegenwerfen, die sein eigenes Selbstwertgefühl auf die Größe einer vertrockneten Erbse haben zusammenschrumpfen lassen.
„Die Wahrheit ist keine Hure, die sich jenem an den Hals wirft, der sie begehrt“ – Schopenhauer lehrte uns Bescheidenheit – und auch in diesem Fall war die Wahrheit nicht für Ello Dox bestimmt. Er nahm sie für sich in Anspruch, aber er war geblendet von der Tatsache, dass in all der Zeit, in der er so oft unterschiedliche Signale ausgesandt hatte, niemand, kein Einziger ihm das Gefühl gab, dass er nicht alleine war. Vielleicht hatte er geradezu wie ein Dürstender, der tagelang durch die Wüste kroch und irgendwann mit fiebrigen Augen begann, Sand in sich hineinzuschütten, in der Annahme es sei Wasser, diesem Martyrium gleich, irgendwann begonnen, Daten und Informationen in sich hineinzuschaufeln, in der Hoffnung, sie würden seine eigene Austrocknung verlangsamen oder gar stoppen. Aber jede Information, die er erhielt, machte ihn nur noch verrückter. Sie machten ihn mächtiger, aber deswegen nicht glücklicher. Er wusste plötzlich über so viel Bescheid, über Unwahrheiten und
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