Giftspur
Feldweg ein, der hinüber zur Nidda führte. Sofort passte sein Bewegungsapparat sich an den unebenen Untergrund an. Er kannte die Strecke in- und auswendig. Im Gegensatz zu anderen Läufern, die sich nachmittags und abends in Gruppen zusammenrotteten oder jedes Mal eine andere Route wählten, suchte Reitmeyer die Einsamkeit des angebrochenen Tages, wenn alles still und friedlich dalag.
Er trug nichts bei sich, kein Handy, kein MP 3 -Player, nichts, was ihn ablenken konnte. Nur er und die Natur, Zeit für Körper und Geist, in Einklang zu kommen. Und doch konnte er nicht so schnell laufen, dass er den Alltagsgedanken zu entfliehen vermochte.
Essenzielles, spirituelles und philosophisches Denken musste sich hintenanstellen und materiellen Überlegungen weichen. Die Bilanzen waren hervorragend, wie sollte es in seiner Branche auch anders sein. Personell mussten einige unschöne Entscheidungen getroffen werden, aber auch das war ihm nichts Neues. Was ihn bedrückte, war etwas anderes.
Schweiß lief ihm übers Gesicht, kullerte warm über die Wangen und tropfte, vom Hinabrinnen abgekühlt, vom bebenden Kinn in den Ausschnitt des Laufshirts. Der kurze Reiz löste ein sanftes Kribbeln an der betroffenen Stelle aus, Ulf beschleunigte weiter und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Das schweißnasse Haar wippte im Takt seiner Schritte, und er stieß einen leisen Fluch aus.
Verdammt!
Nicht einmal beim Laufen gelang es ihm mehr, seine Sorgen abzuschütteln.
Minuten später erreichte er den Niddaradweg, auch hier war keine Menschenseele unterwegs, und nur ein einziges Auto war in der Ferne zu hören. Es näherte sich, dann entfernte es sich wieder, ohne dass Reitmeyer es ins Blickfeld bekam.
Erneut Totenstille. Keine Vögel, keine Insekten, keine Kröten. Alles war erstarrt in dem ewig anmutenden Winterhalbjahr, dessen statistische Sonnenarmut längst Wochenthema der gelangweilten Medien geworden war. Globale Erwärmung? Die Kälte schaufelte Wasser auf die Mühlräder der Ungläubigen, für die es keinen Klimawandel gab. Äußerst kontraproduktiv. Dabei war es genau betrachtet ein völlig normaler Winter gewesen. Der fahle Schein einer Laterne warf einen kurzen Schatten unter ihn, als er den Lichtkegel unterquerte, dann verschwand er wieder. Knirschend rollten die Gelsohlen seiner Laufschuhe über den Bodenbelag, das Wasser der Nidda gluckste kaum hörbar in sanfter Bewegung, und alles in allem hätte es, trotz frostiger Kälte und trübem Morgenhimmel, ein idyllischer Märzsonntag werden können. Doch der Schatten, der sich über seinen Geist gelegt hatte, ließ sich nicht verjagen.
Etwas ist faul im Staate Dänemark.
Warum zum Teufel kam ihm dieses abgedroschene Hamlet-Zitat ständig in den Sinn?
Gab es nichts Besseres? Das Wittern der Morgenluft, zum Beispiel, auf die er sich so krampfhaft zu konzentrieren versuchte. Doch etwas war faul und schien ihm nun über den Kopf zu wachsen. Es wucherte in seinem Inneren, wie endlos verzweigte Wurzeln eines kranken Geschwürs, und konnte nur von der Person geheilt werden, die für die Fäulnis verantwortlich war.
Ihm selbst.
Kälte überlief Ulf Reitmeyer, als er seine Schritte verlangsamte, und dann durchwogte ihn in jähem Kontrast zu seinem Frösteln ein heißer, innerer Schwall. Er zuckte zusammen, tänzelte, riss seine Rechte an die feucht glänzende Kehle und glaubte dort eine geschwollene Zunge zu schmecken, die sich wie ein Pfropf in seine Luftröhre zu schieben schien. Dann sackte er in sich zusammen, spürte das taunasse Ufergras unter sich, dann schwanden ihm die Sinne.
Ein einsamer Star begann seinen schnalzenden Ruf, als würde er ein Klagelied anstimmen.
Ulf Reitmeyer war tot.
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Sonntag, 3 . März
D ann zieh ich eben aus, verdammt!«
Das schrille Kreischen der hysterischen Mädchenstimme schmerzte in den Ohren. Dumpfes Poltern entfernte sich, sie war eine fersenlastige Läuferin, was wohl in der Familie lag, dann krachte die schwere Holztür. Draußen wurde das Stampfen nach und nach leiser. Als es schließlich verebbt war, verkündeten unmittelbar darauf verwaschene, wie durch zugehaltene Ohren klingende Bassschläge, dass Janine ihr Zimmer erreicht hatte und sich vermutlich für die nächsten Stunden dort verschanzen würde. Oder sie packte ihre Sporttasche, um sie ihm vor die Füße zu werfen. Doch diese Möglichkeit schätzte Ralph Angersbach als eher unwahrscheinlich ein. Solche Gesten zogen nicht bei ihm, das hatte seine
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