Gilbert, Elizabeth
das
alles auch Übung und Anstrengung. Gedankenkontrolle ist keine Lehre, die man
sich einmal anhört und umgehend beherrscht. Ständige Wachsamkeit ist vonnöten,
und ich will es schaffen. Ich muss es schaffen, um stärker zu werden. Devo farmi
le ossa, würde man auf Italienisch wohl dazu sagen. »Ich muss mir
ein starkes Rückgrat zulegen.«
Also habe ich begonnen, wachsam zu sein, registriere und
überwache den lieben langen Tag meine Gedanken. Wiederhole etwa
siebenhundertmal am Tag folgendes Gelübde: »Ich will keine unguten Gedanken
mehr hegen.« Und bei jedem negativen Gedanken wiederhole ich diesen Schwur. Ich will keine
unguten Gedanken mehr hegen. Als ich ihn das erste Mal
aussprach, stellte sich beim Wort »hegen« beziehungsweise dem englischen Wort harbor mein
inneres Ohr auf. Harbor ist sowohl ein Verb (das »hegen«
bedeutet) als auch ein Nomen (mit der Bedeutung »Hafen«). Ein Hafen ist natürlich
ein Zufluchtsort. Und so stelle ich mir den Hafen meines Geistes vor: ein wenig
mitgenommen vielleicht, ein wenig sturmgepeitscht, doch günstig gelegen und
ziemlich tief. Der Hafen meines Geistes ist eine offene Bucht, einziger Zugang
zur Insel meines Ichs (die eine junge und fruchtbare Vulkaninsel ist). Sie hat
zwar schon einige Kriege hinter sich, aber unter der neuen Gouverneurin (mir,
die ich neue Strategien zum Schutz der Insel entwickelt habe) hat sie sich dem
Frieden verschrieben. Und jetzt - verkündet es über alle sieben Meere! - gelten
für die Einfuhr von Büchern sehr viel strengere Gesetze.
Die Pestkähne, Sklaven- und Kriegsschiffe mit grobem und
beleidigendem Gedankengut werden jetzt alle abgewiesen. Ebenso wie alle
Gedankenschiffe, beladen mit zornigen oder ausgehungerten Exilanten, mit
Unzufriedenen und Pamphletisten, Meuterern und brutalen Attentätern, verzweifelten
Prostituierten und Zuhältern oder aufrührerischen blinden Passagieren - sie
alle sind hier nicht mehr erwünscht. Blutrünstige Gedanken werden aus nahe
liegenden Gründen nicht mehr aufgenommen. Sogar Missionare werden sorgfältig
auf ihre Vertrauenswürdigkeit überprüft. Dies ist ein friedlicher Hafen,
Zufahrt zu einer schönen, stolzen Insel, die eben erst begonnen hat,
Gelassenheit zu kultivieren. Falls ihr euch an die neuen Gesetze halten wollt,
liebe Gedanken, so seid ihr mir willkommen - wenn nicht, schicke ich euch aufs
offene Meer zurück.
Dies ist meine Mission, und sie wird niemals enden.
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Ich habe mich mit Tulsi, einer siebzehnjährigen Inderin, angefreundet.
Tag für Tag schrubben wir gemeinsam die Tempelböden und schwatzen die ganze
Zeit. Jeden Abend machen wir einen Spaziergang durch die Ashram-Gärten und
unterhalten uns über Gott und Hip-Hop-Musik - zu beidem bekennt sich Tulsi mit
gleicher Hingabe. Tulsi ist wahrscheinlich der süßeste kleine Bücherwurm, den
Sie je gesehen haben, und noch süßer, seit letzte Woche ein Glas ihrer »Brilli«
(wie sie ihre Brille nennt) zerbrochen ist, was sie jedoch nicht davon abhält,
sie weiterhin zu tragen. Tulsi hat so viele aus meiner Sicht interessante und
fremdartige Seiten: Sie ist Teenager, Wildfang, indisches Mädchen, die Rebellin
ihrer Familie, eine Seele, so verrückt nach Gott, dass man fast von einer
Schulmädchenschwärmerei reden könnte. Außerdem spricht sie ein herrliches,
lispelndes Englisch - ein Englisch, wie man es nur in Indien hört und das so
koloniale Wörter wie »famos« oder »Nonsens« beinhaltet. Neulich sagte sie: »Es
ist dem Befinden zuträglich, morgens, sobald sich der Tau gesammelt hat, über
das Gras zu gehen, da dies auf natürliche und angenehme Weise die
Körpertemperatur senkt.« Als ich ihr einmal erzählte, dass ich für einen Tag
nach Mumbai fahren wolle, meinte Tulsi: »Sei bitte vorsichtig, denn du wirst
feststellen, dass es dort überall Busse gibt, die viel zu schnell fahren.«
Sie ist genau halb so alt wie ich und halb so groß.
In der letzten Zeit haben Tulsi und ich uns auf unseren
Spaziergängen viel über das Heiraten unterhalten. Sie wird bald achtzehn, und
ab ihrem achtzehnten Geburtstag gilt sie als Heiratskandidatin. Sie wird dann
beginnen Familienhochzeiten zu besuchen, gekleidet in einen Sari, der ihre
Ehereife signalisiert. Irgendeine nette Amma (»Tantchen«) wird dann neben sie
treten, sich zu ihr setzen, um ihr Fragen zu stellen und sich mit ihr bekannt
zu machen: »Wie alt bist du denn? Und aus welcher Familie stammst du? Was ist
dein Vater von Beruf? An welchen Universitäten hast
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