Gilbert, Elizabeth
ist Beziehung; die Hälfte der Arbeit muss ich erledigen.
Wenn ich eine Veränderung wünsche, aber nicht einmal in Worte fassen will, wie
ich mir diese Veränderung konkret vorstelle, wie soll ich das Gewünschte dann
jemals bekommen? Der halbe Nutzen des Gebets liegt im Bitten selbst, in der
Äußerung einer klar formulierten und wohl überlegten Absicht. Wenn wir das
nicht schaffen, sind all unsere Bitten und Wünsche schlaff und träge, winden
sich wie ein kalter Nebel um unsere Füße, ohne sich je zu erheben. Inzwischen
nehme ich mir jeden Morgen die nötige Zeit, um herauszufinden, worum ich an
diesem Tag ganz speziell und wahrhaftig bitten möchte. Mit dem Gesicht auf dem
kalten Marmor bleibe ich so lange im Tempel knien, bis ich ein echtes Gebet
formuliert habe. Und habe ich kein aufrichtiges Gefühl dabei, bleibe ich knien,
bis es sich einstellt. Was gestern funktioniert hat, muss heute nicht mehr
funktionieren. Gebete können, wenn die Aufmerksamkeit nachlässt, schal werden,
zu langweilig vertrautem Geleier. Wenn ich mich bemühe und auf der Hut bleibe,
übernehme ich Verantwortung für die Pflege meiner Seele.
Auch das Schicksal empfinde ich als Beziehung - als
Wechselspiel göttlicher Gnade und eigener Willensanstrengung. Die eine Hälfte
haben wir nicht in unserer Gewalt, die andere liegt gänzlich in unseren Händen,
und unsere Handlungen werden messbare Folgen zeitigen. Der Mensch ist weder
zur Gänze Marionette der Götter noch völlig Herr seines Schicksals; er ist ein
wenig von beidem. Wie Zirkusartisten reiten wir durch unser Leben, Artisten,
die auf zwei nebeneinander galoppierenden Pferden stehend balancieren - einen
Fuß auf einem Ross namens »Schicksal«, den anderen auf einem Pferd namens
»freier Wille«. Und die Frage, die man sich jeden Tag stellen muss, lautet: Um
welches Ross sollte ich mich nicht länger sorgen, weil ich es gar nicht mehr
unter Kontrolle habe, und welches muss ich weiterhin mit konzentrierter
Anstrengung lenken?
Vieles an meinem Schicksal habe ich nicht in der Hand,
manches aber fällt durchaus in meinen Zuständigkeitsbereich. Ich entscheide
zum Beispiel, wie ich meine Zeit verbringe, mit wem ich verkehre, wen ich an
meinem Leben, meinem Körper, meinem Geld und meiner Energie teilhaben lasse.
Ich kann mir aussuchen, was ich esse, lese, studiere. Ich habe die Wahl, wie
ich unglückliche Umstände in meinem Leben betrachten will - ob ich sie als
Fluch oder Chance begreife (und wenn ich mich mal nicht zu einer
optimistischen Sicht der Dinge aufschwingen kann, weil ich mir einfach zu sehr
Leid tue, kann ich mich dennoch weiter um eine Änderung meines Standpunkts
bemühen). Ich wähle meine Worte und meinen Tonfall, wenn ich mit anderen
spreche. Vor allem aber wähle ich meine Gedanken.
Letztere Vorstellung ist völlig neu für mich. Richard aus
Texas hat mich kürzlich, als ich mich über meinen unwiderstehlichen Hang zum
Grübeln beklagte, darauf aufmerksam gemacht. »Du musst lernen, Groceries«,
meinte er, »dich genauso für deine Gedanken zu entscheiden, wie du dich Tag
für Tag für bestimmte Kleidungsstücke entscheidest. Das ist eine Macht, die du
kultivieren kannst. Wenn du schon unbedingt etwas kontrollieren willst, dann
arbeite an deinen Gedanken. Das ist der einzige Bereich, wo du es versuchen
solltest. Vergiss alles, bis auf das. Denn wenn du nicht lernst, dein Denken
zu beherrschen, bist du zum Scheitern verurteilt.«
Auf den ersten Blick scheint das eine fast unmögliche Aufgabe
zu sein. Seine Gedanken kontrollieren? Statt andersherum? Es geht hier nicht
um Verdrängung oder Verleugnung. Verdrängung und Verleugnung setzen
komplizierte Mechanismen in Gang, um den Anschein zu erwecken, die negativen
Gedanken und Gefühle seien gar nicht vorhanden. Das, wovon Richard spricht (und
was die Yogis immer gesagt haben), heißt dagegen, sich negative Gedanken
einzugestehen, zu begreifen, woher sie kommen und warum sie da sind, um sie
dann - mit großer Nachsicht und Entschiedenheit - zu verabschieden. Das ist
eine Praxis, die perfekt zu all der psychologischen Arbeit passt, die in
Therapien geleistet wird. Um zu begreifen, warum man diese destruktiven
Gedanken überhaupt hat, kann man die Praxis eines Psychoanalytikers aufsuchen;
man kann aber auch spirituelle Praktiken einsetzen, um sie zu überwinden. Sie
loszulassen verlangt natürlich Opfer. Verlangt die Aufgabe alter Gewohnheiten,
tröstlicher Ressentiments und vertrauter Muster. Und natürlich erfordert
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