Gilbert, Elizabeth
bereits in einem Zustand völliger emotionaler Abgetrenntheit
von anderen Menschen existieren und die ich, wenn sie über das heilige Streben
nach Loslösung reden, am liebsten schütteln und anschreien möchte: »Hör mal,
Freundchen, das ist das Letzte, was du üben
musst!«
Aber ich sehe auch ein, dass das Kultivieren eines gewissen,
wohlbedachten Rückzugs in unserem Leben ein wertvolles Werkzeug des Friedens
sein kann. Und nachdem ich eines Nachmittags in der Bibliothek einiges über die
Vipassana-Meditation gelesen hatte, begann ich darüber nachzudenken, wie viel
Zeit ich damit verbringe, wie ein Fisch auf dem Trockenen herumzuzappeln, weil
ich entweder vor irgendeinem Schmerz zurückschrecke oder gierig nach noch mehr
Vergnügen hasche. Und ich fragte mich, ob es mir (und denen, denen es obliegt,
mich zu lieben) dienlich sein könnte, wenn ich lernen würde, still zu sein,
ein bisschen mehr auszuhalten und mich nicht immer auf der Schlaglochpiste der
Gegebenheiten fortschleifen zu lassen.
All diese Fragen holten mich heute Abend ein, als ich in
einem der Ashram-Gärten eine ruhige Bank fand und beschloss, eine Stunde à la Vipassana
zu meditieren. Keine Bewegung, keine Erregung, nicht mal ein Mantra - nur
reines Betrachten. Mal sehen, was so auftaucht. Leider hatte ich vergessen, was
in der indischen Abenddämmerung immer »auftaucht«:
Moskitos nämlich. Kaum saß ich im Licht der untergehenden Sonne auf der Bank,
hörte ich, wie sie mein Gesicht streiften und dann einen Angriff auf Kopf,
Fußgelenke und Arme flogen. Und heftig zustachen. Es nervte mich. Eine
schlechte Tageszeit ist das, dachte ich, um Vipassana-Meditation zu
praktizieren.
Andererseits - wann am Tag oder im Leben wäre je eine
günstige Zeit, um losgelöst und stumm dazusitzen? Wann schwirrt einmal nichts
um uns herum und versucht, uns abzulenken und uns eine Reaktion zu entlocken?
Also traf ich (inspiriert vom Rat meines Gurus, mein Inneres zu erforschen)
eine Entscheidung. Ich schlug mir selbst ein Experiment vor: Wie wäre
es, wenn ich das einmal aussitzen würde? Wenn ich -
ein einziges Mal in meinem Leben - das Unbehagen einmal aushielte?
Also tat ich es. Schweigend sah ich zu, wie mir die Moskitos
das Blut aus den Adern saugten. Einerseits fragte ich mich natürlich, was mir
dieses masochistische Experiment eigentlich beweisen sollte, andererseits aber
wusste ich genau: Es war eine Anfängerübung in Sachen Selbstbeherrschung.
Wenn ich dieses - nicht tödliche - körperliche Unbehagen aushielte, welche
anderen unangenehmen Situationen könnte ich eines Tages möglicherweise
durchstehen? Wie würde ich mit emotionalen Verstimmungen umgehen, die ich doch
noch viel schwerer ertrug? Wie mit Eifersucht, Zorn, Angst, Enttäuschung,
Einsamkeit, Scham, Langeweile?
Am Anfang war das Jucken unerträglich, schließlich aber
verschmolz es mit einem allgemeinen Gefühl des Brennens, und ich ließ mich von
dieser Hitze in eine sanfte Euphorie versetzen. Allmählich verloren Schmerz und
Jucken ihre negativen Assoziationen und wurden zu bloßer Empfindung, einer
Empfindung, die weder gut noch schlecht war, nur intensiv, und diese
Intensität hob mich über mich selbst hinaus und in die Meditation. Zwei Stunden
blieb ich so sitzen. Ein Vogel hätte auf meinem Kopf landen können; ich hätte
es nicht bemerkt.
Eines möchte ich klarstellen. Ich weiß, dass dieses Experiment
nicht der stoischste Kraftakt in der Geschichte der Menschheit war. Dennoch war
es spannend für mich, zu erkennen, dass ich es in meinen vierunddreißig Jahren
auf Erden nie unterlassen hatte, nach der Stechmücke zu schlagen, wenn sie mich
stach. Mein ganzes Leben lang habe ich auf kleine und große Signale des
Schmerzes oder des Vergnügens reagiert wie eine Marionette auf die Bewegung des
Puppenspielers. Wann immer etwas geschieht, reagiere ich. Aber nun saß ich da
- und widerstand dem Reflex. Ich tat etwas, was ich noch nie getan hatte. Eine
Kleinigkeit, zugegeben, aber wie oft konnte ich das von mir behaupten? Und was
ich heute schon fertig bringe, schaffe ich auch morgen.
Schließlich stand ich auf, ging in mein Zimmer und nahm
den Schaden in Augenschein. Ich zählte etwa zwanzig Stiche. Doch nach zwanzig
Minuten waren die Schwellungen schon ein wenig abgeklungen. Alles geht vorüber.
Ja, letztendlich geht alles vorbei.
57
Die Suche nach Gott bedeutet eine Umkehrung der gewohnten,
profanen Weltordnung. Auf der Suche nach Gott kehren wir dem, was uns
Weitere Kostenlose Bücher