Gilbert, Elizabeth
dem
Dinner bei den Meditationshöhlen, und er bat mich, ihm zu folgen, er habe ein
Geschenk für mich. Er lotste mich zu einem Gebäude, in dem ich noch nie
gewesen war, schloss eine Tür auf und führte mich über eine Hintertreppe nach
oben. Er kannte sich in diesen Räumlichkeiten offenbar sehr gut aus - vielleicht,
weil er die Klimaanlage repariert hatte, deren Geräte sich teilweise hier
befanden. Auf dem obersten Treppenabsatz war eine Tür, deren Schloss mit einer
Zahlenkombination geöffnet werden musste. Er öffnete es, und wir betraten eine
wunderbare Dachterrasse, deren Keramikfliesen im abendlichen Zwielicht
glitzerten. Über das Dach führte er mich zu einem kleinen Turm, eigentlich
einem Minarett, und deutete auf eine weitere schmale Treppe, die auf die
höchste Spitze des Turmes führte. »Ich lasse dich jetzt allein. Du gehst nach
oben. Bleib so lange oben, bis du fertig bist.«
»Bis ich womit fertig bin?«, fragte ich.
Der Klempner/Dichter lächelte nur, reichte mir eine Taschenlampe,
»damit du danach wieder sicher herunterkommst«, sowie ein gefaltetes Blatt
Papier. Dann verschwand er.
Ich stieg auf den Turm hinauf. Nun befand ich mich auf dem
höchsten Punkt des Ashrams und genoss den Ausblick. So weit das Auge reichte,
erstreckten sich Berge und Acker land. Dies war wohl kein Ort, zu
dem Schüler normalerweise Zugang hatten. Vielleicht beobachtete ja meine
Meisterin- wenn sie im Ashram weilte - von hier aus den Sonnenuntergang. Und
gerade in diesem Moment ging die Sonne unter. Ich faltete den Zettel
auseinander, den der Klempner/Dichter mir in die Hand gedrückt hatte. In
Druckbuchstaben stand da zu lesen:
Anweisungen für die Freiheit:
1 ) Lebensmetaphern sind Anweisungen Gottes.
2) Du bist über das Dach hinausgestiegen. Nichts mehr
liegt zwischen dir und dem Unendlichen. Also lass los!
3) Der Tag neigt sich dem Ende zu. Und es wird Zeit, dass
sich etwas, das schön war, in etwas anderes Schönes verwandelt. Also lass los!
4) Dein Wunsch nach Loslösung war dein Gebet. Deine
Anwesenheit an diesem Ort ist Gottes Antwort. Lass los und betrachte die
aufgehenden Sterne - am Himmel und in dir!
5) Bitte um Gnade, aus ganzem Herzen, und lass los!
6) Vergib ihm, aus ganzem Herzen, vergib dir, und lass ihn
los!
7) Dein Ziel sei Freiheit von sinnlosem Leiden! Also lass los!
8) Fühle, wie die Hitze des Tages in die Kühle der Nacht
übergeht! Lass los!
9) Wenn das Karma der Beziehung erledigt ist, bleibt nur
die Liebe. Sie ist niemals in Gefahr. Lass los!
10) Ist die Vergangenheit nun endlich von dir gewichen, so
lass los! Steig wieder hinunter und beginne aufs Neue zu leben! In Freuden!
Im ersten Moment konnte ich gar nicht mehr aufhören zu lachen.
Ich blickte über das Tal. Über das Blätterdach der Mangobäume, und der Wind
zerrte an meinem Haar wie an einer Fahne. Ich sah die Sonne hinter dem Horizont
versinken und legte mich dann auf den Rücken und betrachtete die aufgehenden
Sterne. Ich sang ein kleines Sanskritgebet, und jedes Mal, wenn ich einen neuen
Stern am sich verdunkelnden Himmel aufleuchten sah, wiederholte ich es, fast
so, als würde ich diese Sterne hervorlocken, doch dann gingen sie immer
schneller und zahlreicher auf, und ich kam nicht mehr mit. Bald war der ganze
Himmel eine schillernde Sternenshow. Und zwischen Gott und mir war nur ... das
Nichts.
Da schloss ich die Augen und sagte: »Bitte, lieber Gott,
zeig mir, was ich im Hinblick auf Vergeben und Loslassen begreifen muss.«
Lange hatte ich mir gewünscht, ein wirkliches Gespräch mit
meinem Exmann zu führen, doch offensichtlich würde es nie dazu kommen. Nach
einer Lösung hatte ich mich gesehnt, einer Friedenskonferenz, auf der wir
gemeinsam ein Fazit unserer Ehe ziehen und einander die Hässlichkeit unserer
Scheidung verzeihen würden. Doch monatelange Beratung und Meditation hatten
unsere Trennung nur vertieft, unsere Positionen verfestigt und uns zu zwei
Menschen gemacht, die absolut unfähig waren, einander irgendetwas zu verzeihen.
Genau das aber brauchten wir alle beide, dessen war ich mir sicher. Und eine
weitere Gewissheit spürte ich: dass man Gott keinen Zentimeter näher rückt,
solange man sich an einen letzten Faden Schuld klammert. Was der Rauch für die
Lungen ist der Groll für die Seele; bereits ein einziger Zug davon ist
schädlich. Was für ein Gebet wäre das, wenn wir täglich (wie Rauch) in uns
aufsaugten: »Unseren täglichen Groll gib uns heute«? Da könnten wir es ja
ebenso gut
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