Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
Fassung, bis sie wieder einigermaßen klar denken konnte, dann riss sie den Umschlag auf und zog das Schreiben heraus. Hier ging es um das Vermächtnis ihrer Mutter, und das ließ sie sich von Jeffrey nicht verderben.
Alles in allem gesehen war die Hinterlassenschaft ihrer Mutter eher unbedeutend– Marguerites Vermögen war gleichmäßig unter den beiden noch lebenden Töchtern aufgeteilt worden und bestand aus dem Geld, das sie mit ihren einzigartigen Quilts verdient hatte. Ihre Mutter hatte diese Summe nie angerührt, da Jeffrey sie immer großzügig mit Geld versorgt hatte.
Männliches Gelächter, starke Hände werfen sie in die Luft.
Unter dem Eindruck der Erinnerung wankte sie, dann verscheuchte sie den Gedanken– nichts als Wunschdenken. Ihr Vater war schon immer ein Mann von eiserner Disziplin gewesen, der nicht vergeben konnte. Trotzdem musste sie ihm zugestehen, dass er tatsächlich etwas für seine französische Ehefrau empfunden hatte– üppiges Haushaltsgeld, Schmuck bei jedem Anlass. Wo waren all diese Kostbarkeiten nur geblieben? Hatte Beth sie?
Der Wert dieser Sachen war ihr gleichgültig, nur hätte sie gern etwas gehabt, das einst ihrer Mutter gehört hatte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie eines Tages aus dem Internat nach Hause gekommen war und alle Spuren von Marguerite, Mirabelle und Ariel aus dem Haus getilgt waren– einschließlich des Quilts, den sie seit ihrem fünften Geburtstag so sehr geliebt hatte. Es war, als hätte sie sich ihre Mutter und ihre großen Schwestern nur eingebildet.
Irgendjemand stieß sie mit der Schulter an. »He, Alte. Verpiss dich.« Der schlaksige Student drehte sich noch einmal um und zeigte ihr den Stinkefinger.
Ganz automatisch erwiderte sie seine Geste und war im Grunde froh, dass er sie aus ihrer Erstarrung befreit hatte. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch etwas Zeit hatte. Gleich jetzt wollte sie die Bank aufsuchen, von der in dem Schreiben die Rede war. Zum Glück war die Bank fast um die Ecke. Gerade als sie die letzten Papiere unterschrieben hatte und sich anschickte wieder zu gehen, trat der Filialleiter auf sie zu und sagte: »Möchten Sie auch den Inhalt Ihres Schließfaches begutachten, Ms Deveraux?«
Perplex starrte sie in sein aufgedunsenes Gesicht, eine Folge von zu viel gutem Essen und zu wenig Bewegung. »Ein Schließfach?«
Er nickte, zog sich die Krawatte glatt. »Ja.«
»Brauche ich dafür nicht einen Schlüssel und«– sie runzelte die Stirn–, »und eine Beglaubigung meiner Unterschrift?« Das wusste sie nur rein zufällig, weil sie es für eine besonders komplizierte Jagd einmal hatte recherchieren müssen.
»Normalerweise schon.« Jetzt zog er die Krawatte schon zum zweiten Mal glatt. »Allerdings ist Ihre Situation auch etwas Besonderes.«
Übersetzt hieß das: ihr Vater hatte aus nur ihm bekannten Gründen alle möglichen Beziehungen spielen lassen. »Also gut.«
Fünf Minuten später wurde ihre Unterschrift beglaubigt und ihr ein Schlüssel ausgehändigt. »Wenn Sie mir bitte in den Tresorraum folgen wollen– wir benutzen hier ein doppeltes Sicherheitssystem. Ich habe den Schlüssel für den Tresorraum und Sie den für Ihr Schließfach.« Er geleitete sie durch die vornehmen Hallen des alten, soliden Baus bis ganz an ihr Ende.
Hinter mehreren elektronisch gesicherten Türen, die so gar nicht zu dem historischen Gemäuer passen wollten, lagen die Schließfächer.
Elena.
Dieses dunkle Flüstern in ihrem Kopf war keine Einbildung. »Verschwinde.«
Erschreckt blickte sich der Mann vor ihr um. Sie tat so, als wäre sie mit ihren Nägeln beschäftigt.
Du bist spät dran.
Mit zusammengekniffenen Augen fragte sie sich, ob es die Kopfschmerzen wert war, ihn aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Wenn du die Bank verlässt, wird dich ein Wagen erwarten.
Sie blieb stehen und bohrte ihren Blick in das Jackett des Filialleiters, roch seinen Angstschweiß. »Wen haben Sie eigentlich vor ein paar Minuten angerufen?«
Als er sich zu ihr umblickte, waren seine Augen wie die eines Hasen vor Panik geweitet. »Niemanden, Ms Deveraux.«
Mit einem kalten Lächeln gab sie ihm zu verstehen, dass er sie mehr als verärgert hatte. »Zeigen Sie mir mein Fach.«
Überrascht, so leicht davongekommen zu sein, kam er ihrem Befehl nach. Sie wartete, bis er die lange Metallkassette herausgenommen und auf einen Tisch gestellt hatte, und gab ihm dann ein Zeichen zu verschwinden. Ein Rädchen in Raphaels Getriebe, mehr
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