Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
Gesichtsausdruck gefiel ihm ganz und gar nicht.
Kalt sah sie ihn an. »Das geht dich nichts an.«
Eigentlich hätte er ihr ihr Verhalten übel nehmen müssen. Eine Seite von ihm, die seit tausend Jahren währende Arroganz, tat das auch. Doch ebenso weckte es seine Neugier. »Zahlst du mir jetzt mit gleicher Münze heim?«
Sie zuckte mit den Schultern und kniff die Lippen fest zusammen.
»Es war dein Vater.«
Sie wurde ganz steif. »Was? Kannst du jetzt auch schon bei Telefonaten mithören?«
»Selbst Erzengel können das nicht.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber schließlich hatte er versprochen, ihre Gedanken nicht mehr zu belauschen. »Aber ich habe meine Hausaufgaben gemacht.«
»Wie schön für dich.« Wenn Worte töten könnten, wäre er längst tot gewesen.
Mit einem Blick auf seine blutige Faust fragte er sich, ob sie ihn nun für ein Ungeheuer hielt. »Jeffrey Deveraux scheint der einzige Mensch auf Erden zu sein, mit dem du nicht fertig wirst.«
»Wie ich schon sagte, es geht dich nichts an.« Er konnte beinahe das Knirschen ihrer Zähne hören.
»Bist du dir sicher?«
Seine Frage ging Elena nicht mehr aus dem Kopf, während sie die Stufen zu einem Sandsteinhaus, dem Privatbüro ihres Vaters, hinaufstieg. Er hatte noch ein zweites Büro, irgendwo hoch oben in einem Turm aus Stahl und Glas, aber hier wurden die Entscheidungen gefällt. Und hier kam man auch nur mit persönlicher Einladung hinein.
Noch nie hatte sie einen Fuß über die Schwelle gesetzt.
Jetzt blieb sie vor der verschlossenen Eingangstür stehen, und dabei fiel ihr Blick auf eine dezente Metalltafel auf der linken Seite.
Deveraux Enterprises, seit 1701
Die Deveraux konnten ihren Stammbaum sehr weit zurückverfolgen. Sie mussten schon Buch geführt haben, kurz nachdem sie aus dem Urschleim gekrochen waren. Entschlossen kniff sie die Lippen zusammen. Schade, dass der andere Zweig ihrer Familie nicht so angesehen war. Als Waise, die in Pflegefamilien am Pariser Stadtrand aufgewachsen war, hatte Marguerite keinen großartigen Stammbaum vorzuweisen gehabt– nichts außer einer schwachen Erinnerung an die marokkanischen Wurzeln ihrer Mutter. Aber sie war wunderschön gewesen, ihre Haut reines Gold, die Haare pures Weiß.
Und ihre Hände… geschickte Hände, die wahre Wunder vollbracht hatten.
Elena hatte nie verstanden, warum ihre Eltern geheiratet hatten. Wahrscheinlich würde sie das auch nie, denn der Elternteil, der es ihr vielleicht hätte erzählen können, war gestorben, und der übrig gebliebene schien sich nicht mehr daran erinnern zu wollen, dass er einst eine Frau namens Marguerite gehabt hatte, die mit einem fremdartigen Akzent sprach und mit ihrem frohen, lauten Lachen jede Stille durchbrach.
Ob ihr Vater manchmal noch an Ariel und Mirabelle dachte, oder ob er sie ebenfalls aus seiner Erinnerung gestrichen hatte?
Ari starrte sie an, während sie schrie. Belles Blut auf den Küchenfliesen. Barfuß rutschte sie darauf aus, schlug schmerzhaft auf dem harten Boden auf. In ihrer Hand etwas Feuchtes, Warmes.
Eine Hand mit einem noch schlagenden Herzen.
Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, um das Durcheinander an ekelerregenden Erinnerungen loszuwerden. Was Raphael heute getan hatte… war ein erneuter Beweis dafür, dass er kein Mensch war, nicht einmal annäherungsweise. Aber der Erzengel von New York war nicht das Monstrum, dem sie gleich gegenüberstehen würde.
Sie klingelte und schaute dabei in das Auge der Überwachungskamera, die so unauffällig war, dass sie den meisten Besuchern vermutlich gar nicht auffiel. Eine Sekunde später wurde die Tür geöffnet. Aber nicht von Jeffrey, das hatte sie auch nicht erwartet. Ihr Vater war viel zu wichtig, um Zeit dafür zu opfern, seiner ältesten noch lebenden Tochter die Tür zu öffnen. Selbst wenn er diese Tochter schon seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.
»Ms Deveraux?« Eine kleine Brünette begrüßte sie mit einem mechanischen Lächeln. »Treten Sie doch bitte ein.«
Elena tat, wie ihr geheißen, und musterte sie dann unauffällig. Ihre gespenstisch weiße Haut stand in auffallendem Kontrast zu dem Dunkelblau ihres maßgeschneiderten Anzuges, den sie trug. Sie war der Inbegriff einer Assistentin der Geschäftsführung, die einzige Extravaganz, die sie sich leistete, war ein Diamantring am Mittelfinger und der hohe mandarinenfarbene Kragen ihres Blazers. Elena atmete tief durch und merkte, dass ihre Lippen sich unwillkürlich kräuselten.
Ihr Gegenüber
Weitere Kostenlose Bücher