Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
erstarrte und sagte steif: »Ich bin Geraldine, Mr Deverauxs persönliche Assistentin.«
»Elena.« Sie schüttelte ihr die Hand und merkte, wie kalt sie war. »Ich rate Ihnen, lassen Sie sich Eisentabletten verschreiben.«
In Geraldines beherrschtem Gesicht zuckte es nur kurz. »Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen.«
»Ja, tun Sie das.« Ob ihr Vater wohl von den außerplanmäßigen Aktivitäten seiner Sekretärin wusste?
»Wo ist mein Vater?«
»Bitte folgen Sie mir.« Zögern. »Er weiß nichts davon.« Keine Bitte, eher eine trotzige Erklärung.
»Nun, was Sie in Ihrer Freizeit tun, geht niemanden etwas an«, sagte Elena achselzuckend und sah dabei Dmitri vor sich, wie er sich über den Hals der Blondine beugte. Seinen hungrigen Blick, als sie ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. »Ich hoffe nur, es lohnt sich.«
Die andere warf ihr ein vertrauliches Lächeln zu, bevor sie sie den Gang hinunterführte. »Oh ja. Es ist schöner als alles, was Sie sich vorstellen können.«
Das wagte Elena zu bezweifeln, besonders wenn sie an Raphaels starke, besitzergreifende und mehr als ein wenig gefährliche Hand auf ihrer Brust dachte. Nur schade, dass sie auch vor Augen hatte, wie sich dieselbe Hand durch den Brustkorb eines Mannes bohrte und sein Herz herausriss.
Vor einer großen, geschlossenen Holztür blieb Geraldine stehen. Sie klopfte leise an und trat dann zur Seite. »Bitte gehen Sie hinein. Ihr Vater erwartet Sie schon.«
»Vielen Dank.« Sie drückte die Klinke hinunter.
28
Jeffrey Deveraux stand am Kamin, die Hände in den Hosentaschen seines Nadelstreifenanzuges, der wahrscheinlich eigens für seine große Gestalt angefertigt worden war. Marguerite war nur knapp einen Meter fünfzig gewesen. Dass Elena so groß war, hatte sie Jeffrey zu verdanken. Ohne Schuhe war er einen Meter neunzig groß– und auch sonst war ihr Vater in jeder Hinsicht perfekt.
Aus seinen blassgrauen Augen blickte er sie wie ein Raubvogel kalt und prüfend an. Sein Gesicht war hart und markant, die straff zurückgekämmten Haare entblößten tiefe Geheimratsecken. In diesem Alter waren die meisten Männer grau. Jeffrey hingegen war von einem vornehmen Goldton direkt zu reinem Weiß übergegangen. Es stand ihm gut, brachte seine Gesichtszüge noch besser zur Geltung.
»Elieanora.« Er hörte auf, seine Brille zu putzen, und schob das zarte Gestell, das ungefähr so stabil war wie eine dreißig Zentimeter dicke Wand, wieder auf die Nase.
»Jeffrey.«
Er verzog den Mund. »Sei nicht albern. Ich bin dein Vater.«
Sie zuckte mit den Schultern und nahm automatisch eine abwehrende Haltung ein. »Du wolltest mich sehen. Hier bin ich.« Wütend stieß sie die Worte hervor. Zehn Jahre war sie nun schon auf sich alleine gestellt, doch in Gegenwart ihres Vaters fiel sie sofort wieder in die Rolle eines Teenagers zurück, der ein Leben lang um die väterliche Liebe geworben und dafür nichts als Fußtritte bekommen hatte.
»Ich bin enttäuscht«, sagte er tonlos. »Hatte erwartet, dass die Umgangsformen der Gesellschaft, in der du dich befindest, etwas auf dich abfärben.«
Verwundert runzelte sie die Stirn. »Mein gesellschaftlicher Umgang hat sich nicht geändert. Bestimmt bist du der Direktorin unserer Gilde, Sara, bei verschiedenen Anlässen schon begegnet und Ransom…«
»Was deine Jägerfreunde tun«, sagte er mit vor Abscheu verzerrtem Gesicht, »interessiert mich nicht im Mindesten.«
»Das hatte ich auch nicht erwartet.« Warum, zum Teufel, hatte sie seinem Befehl Folge geleistet und war gekommen? Nur mit Schock ließ sich das erklären. »Aber warum hast du sie denn überhaupt erwähnt?«
»Ich hatte dabei die Engel im Sinn.«
Erstaunt sah sie ihn an. Warum überraschte sie das eigentlich? Ihr Vater hatte überall seine Finger im Spiel, und nicht alle seiner Geschäfte waren ganz legal. Natürlich würde er ihr die Haut bei lebendigem Leibe abziehen, wenn sie auch nur andeutungsweise seine blütenweiße Weste in Frage stellte. »Du wärst überrascht, was alles salonfähig ist.« Raphaels unbarmherzige Rechtssprechung, Michaelas unstillbares sexuelles Verlangen, Urams Metzeleien– nichts von alledem würde zu der Vorstellung passen, die ihr Vater von Engeln hatte.
Mit einer abfälligen Handbewegung fegte er ihre Worte hinweg, als seien sie bedeutungslos. »Ich muss mit dir über dein Erbe reden.«
Elena ballte die Fäuste. »Du meinst die Treuhandgesellschaft, die meine Mutter für mich eingerichtet hat.«
Weitere Kostenlose Bücher