Gilde der Jäger 01 - Engelskuss
war er nicht. Als sie alleine war, starrte sie an die Wand. »Raphael?«
Nichts.
Unter großer Anspannung schloss sie die Kassette auf und nahm den Deckel ab, in der Erwartung… eigentlich wusste sie gar nicht so recht, was sie eigentlich erwartet hatte, aber jedenfalls nicht das. Schmuckkästchen, Briefe mit Schleifchen darum, Fotos, eine Quittung von einem kleinen Lagerraum. Ganz zuoberst lag ein schwarzes ledernes Notizbuch, dessen Ecken mit Gold eingefasst waren. Sie streckte ihre Hand danach aus, berührte es und schlug dann den Deckel der Kassette wieder zu. Sie konnte es einfach nicht. Nicht heute. Nachdem sie das Kästchen wieder verschlossen hatte, rief sie nach dem Filialleiter und ließ es zurück in das Schließfach stellen. »Wie lange liegt das hier schon?«
Mit einem Blick auf die Unterlagen in seiner Hand sagte er: »Offenbar wurde es vor fünfzehn Jahren eingerichtet.«
Noch bevor er sie davon abhalten konnte, hatte sie sich die Unterlagen geschnappt und blickte entgeistert auf die Unterschrift unten auf der Seite.
Jeffrey Parker Deveraux.
Vor fünfzehn Jahren. In dem Sommer, in dem er ihre Mutter und ihre älteren Schwestern ausgelöscht hatte. Nur dass diese Kassette eine andere Geschichte erzählte. Zur Hölle mit ihm! Sie drückte dem Filialleiter die Unterlagen wieder in die Hand und stolzierte mit langen Schritten durch das beeindruckende Bankhaus auf die dicken Glastüren zu, die ihr ein Sicherheitsbeamter aufhielt. »Danke.«
Nur Sekunden später erstarb das Lächeln auf seinen Lippen. Elena folgte seinem Blick und sah einen unglaublich schönen Mann mit blauen Flügeln, der ganz nonchalant direkt vor der Bank an einem Laternenpfahl lehnte. Auf dieser Straßenseite war der Bürgersteig wie leer gefegt, doch auf der gegenüberliegenden Seite war es so voll, als hätte ganz New York beschlossen, hier vorbeizuspazieren.
Sie trat auf den Bürgersteig. »Illium.«
»Zu Ihren Diensten.« Mit der Hand zeigte er hinter sich aufden offenen Ferrari. Er war so rot wie die Feuerwehr. War ja klar.
Sie zog eine Braue hoch. »Wie bekommen Sie denn Ihre Flügel da hinein?«
»Ach, ich kann leider nur zuschauen.« Er warf ihr die Schlüssel zu.
Reflexartig fing sie sie auf und blickte finster vor sich hin. »Wem gehört denn der millionenteure Schlitten, und was verlangt er von dir dafür?«
»Er gehört Dmitri, und er hat es einfach so getan.«
Beinahe hätte sie laut losgelacht. Wer hätte das gedacht! »Hast du die Aufzeichnungen?«
Seine Augen– lebhaft glänzendes Gold, das sich auffallend von seinem schwarzblauen Haar abhob– wanderten zu dem Wagen. »Im Handschuhfach.«
Nicht dass es ihr nicht Spaß gemacht hätte, Dmitri ein wenig zu ärgern, indem sie mit seinem heiß geliebten Wagen eine Spritztour machte, aber… »Ich brauche einen Wagen, der nicht so auffällt.«
»Zwei Straßen weiter gibt es ein unterirdisches Parkhaus. Fahren Sie dort hinein und tauschen Sie ihn gegen den anderen aus.« Er löste sich von dem Laternenpfahl und breitete seine Flügel aus.
»Geben Sie ein bisschen an?«
»Oui, oui.« Und sein Lächeln war voll männlichem Charme.
»Sind Ihre Haare natur?«
Er nickte. »Und meine Augen auch. Falls Sie sich auch das gefragt haben.« Wieder ein neckendes Lächeln.
Eine einzelne blaue Feder schwebte in den Rinnstein. »Gleich gibt es hier einen Tumult, wenn Sie die nicht schnell aufheben.«
Er folgte ihrem Blick. »Ich hebe sie auf und lasse sie später vom Himmel fallen. Irgendjemand wird dann an ein Wunder glauben.«
Kichernd, aber dennoch seltsam berührt, stieg sie in das Auto. Auf der anderen Straßenseite schossen die Handykameras mit irrsinniger Geschwindigkeit Bilder. Elena verdrehte die Augen. »Fliegen Sie lieber los, sonst überfällt man Sie noch.«
»Vielleicht sehe ich ja hinreißend aus, Elena, aber ich bin ziemlich gefährlich.« Ein klitzekleiner britischer Akzent war auszumachen.
»Das«, sagte sie, »habe ich auch nie bezweifelt.« Sie warf den Motor an und fuhr los, dabei spürte sie, wie Illium hinter ihr abhob. Vielleicht war er gefährlich, aber er war kein Erzengel. Und was, zum Henker, hatte sich Raphael nur dabei gedacht, ihr einen solch…
Er hatte es gewusst.
Er hatte gewusst, warum Jeffrey sie zu sich zitiert hatte, warum er sich herabgelassen hatte, mit einer Tochter zu sprechen, mit der er eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte.
Nicht nur das, er hatte auch ihre Reaktion genau vorausgesehen.
Und hatte für die
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