Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
Flügel im Auge, und als sie bei der Landung zur Seite einknickte, ging er absichtlich zu dicht neben ihr runter, damit die anderen, die um sie herum landeten, ihr Stolpern nicht ihrer Schwäche, sondern seiner Ungeschicklichkeit zuschreiben konnten.
Wie Mahiya gesagt hatte, war Stolz ein wesentlicher Bestandteil von Nehas Charakter.
Nachdem sie sich auf ihm abgestützt hatte, um sich wieder aufzurichten, betrat sie ihren privaten Wohnbereich, ohne ihm Beachtung zu schenken. Aber er wusste, wenn er jetzt fortginge, würde er alles zunichtemachen, was er erreicht hatte. Also begab er sich in den Hof, um sich um die Verletzten zu kümmern – nur weil Engel und Vampire schwer zu töten waren, bedeutete das nicht, dass sie keine Schmerzen litten. Ein Mann, der Morphium und andere Schmerzmittel spritzen konnte, war unter Gefechtsbedingungen immer gut zu gebrauchen.
Als Nehas persönlicher Wachmann ihn zwei Stunden später rufen ließ, waren schon fast alle Verletzten in die Innenräume gebracht worden und der Hof so gut wie leer. Jason meldete sich bei dem Heiler ab, unter dem er gearbeitet hatte, und betrat den Palast, wo er Neha am Ende des Hauptraums auf einem thronähnlichen Sessel vorfand. Der Erzengel hatte gebadet und trug frische Kleidung, alle Wunden waren verbunden. Die Verbände verrieten Jason, dass die Wunden langsamer verheilten, als sie eigentlich sollten – und dass Nivriti kein normaler Engel mehr war.
»Du bist jetzt also Friedensstifter?« Nehas Tonfall war bedrohlich ausdruckslos.
»Sie gehören zu den vernünftigeren Erzengeln«, sagte er. Trotz allem, was sie nach Anoushkas Hinrichtung getan hatte, entsprach das der Wahrheit. »Sie zu verlieren würde mehr Probleme schaffen als lösen.«
»Für wie vernünftig hältst du mich denn?« Ein fast unmerklich berechnender Blick.
»Für vernünftig genug, um alles aufzunehmen und umzusetzen, was Lijuan Ihnen über die Steigerung Ihrer neuen Fähigkeiten beibringen konnte«, sagte er, »ohne ihr ins Netz zu gehen.« Es war ein Schuss ins Blaue.
»Endlich«, säuselte Neha, »sind wir beim Thema. Deshalb warst du so begierig darauf, mir zu helfen, nicht wahr?«
»Ich bin ein Meisterspion.«
Nehas Lächeln war eisig. »Und wer von dir erwartet, dass du dich anders verhältst, könnte auch von einem Adler erwarten, dass er das Kaninchen nicht frisst.« Sie hob eine kleine Greifschwanz-Lanzenotter auf, die sich über den Boden schlängelte, und legte sie sich um den Hals, wobei sie geistesabwesend die gelborange Haut des Tiers streichelte. »Ja, Lijuan war mir in letzter Zeit sehr nachbarschaftlich zugetan.«
Das konnte Jason sich vorstellen. Das Trauma von Anoushkas Tod hatte Neha zu einer erstklassigen Beute für ein Raubtier wie Lijuan gemacht. »Ich bin dabei auf eine Frage gestoßen.«
Neha hob eine Augenbraue.
»Ob Lijuan irgendwie die Macht anderer Kadermitglieder abschöpfen kann oder daran arbeitet.« Diese Theorie war so unausgereift, dass er sie nicht einmal Raphael gegenüber erwähnt hatte. »Dann würde mir ihr Angebot, Ihnen zu helfen, einleuchten.«
»Gut, gut, gut.« Neha erhob sich, stieg die flachen Stufen vor ihrem Thron herab und schüttelte den Kopf. »Zu schade, dass du niemals herrschen wirst. Ja, die hilfsbereite Lijuan hat versucht, ihr Spiel mit mir zu treiben.« Zähne blitzten auf. »Aber sie vergaß, dass auch ich dieses Spiel seit Jahrtausenden beherrsche und weiß, wie ich das bekomme, was ich will.«
Jason war sich ziemlich sicher, dass in Wirklichkeit keine geheime Beschleunigung der Machtentwicklung existierte und Lijuan sich nur die Auswirkungen der Kaskade zunutze gemacht hatte. Mit ihren mindestens neuntausend Jahren hätte sie Jahrtausende Zeit gehabt, die Bibliothek der Zufluchtsstätte nach derartigen Geheimnissen zu durchforsten, darüber hinaus war sie schon zu Zeiten an die Macht gelangt, als noch einige der Uralten im Kader saßen. Gut möglich, dass diese ihr von der Kaskade erzählt hatten.
Ein solcher Plan hätte gut zu dem intelligenten, verschlagenen Erzengel von China gepasst, aber wenn Jason jetzt davon anfing, würde er Neha bloßstellen, also schwieg er und dachte über seinen Bericht an Raphael nach. Zwar konnte er nicht über die Verbindung zwischen Lijuan und Neha sprechen, über Nehas neue Fähigkeiten jedoch schon, denn diese waren durch die Zurschaustellung über der Stadt öffentlich bekannt geworden.
»Wenn du weiterhin in meiner Gunst stehen willst, Jason«, Nehas Sari strich über
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