Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
Facetten von ihr kannte. Seit dem Tag, an dem er im Schatten der fröhlichen gelben Hibiskusblüten eine tiefe Grube ausgehoben hatte, während über ihm die Möwen kreischten und kämpften, war es nichts und niemandem mehr gelungen, ihm unter die Haut zu gehen.
In diesem Wissen flog er von der Bergfestung hinunter und ein Stück an der Kammlinie entlang, bevor er sich hoch in den grauen Himmel emporschwang, wo die Wolken noch schwer genug waren, um ihn vor den Blicken anderer zu verbergen. Hier oben, weit über dem Boden, fühlte er sich mehr zu Hause als irgendwo sonst auf der Welt.
»Langsamer, Jason!« Mit festem Griff umfasste eine Hand seinen Knöchel, als seine Flügel sich ineinander verfingen und er abzustürzen drohte.
»Vater!«
»Ich hab dich, mein Sohn. Breite die Flügel langsam aus … ja, genau so.«
Sein Vater ergriff auch seinen anderen Knöchel, um ihn höher in den Himmel zu ziehen. »Ich lasse dich wieder los. Bereit?«
Jason holte tief Luft und sagte: »Ja.« Sein Magen überschlug sich, als sein Vater die Hand löste.
Er fiel!
Aber anstatt gegen den Wind anzukämpfen, drehte er sich diesmal hinein und ließ sich von ihm über das glitzernde Wasser tragen, das ihr Zuhause umgab. Das leuchtende Blaugrün war so klar, dass er die im Korallenriff umherschwimmenden Fische als orange und rote Streifen erkennen konnte.
Über sich hörte er den Freudenschrei seines Vaters, und er lachte.
Es war nicht so, dass Jason nicht fliegen konnte. Nur war es nie nötig gewesen, die schwierigeren Techniken zu üben, um weiter als auf das Dach ihres Hauses oder in die Baumkronen fliegen zu können. Aber wenn er seinen Vater zu der kleinen unbewohnten Insel begleiten wollte, die er in der Ferne gerade noch erkennen konnte – wo dieser die Früchte erntete, die seine Mutter besonders mochte –, musste er lernen, auf den Luftströmen zu reiten, um Energie zu sparen.
»Vater!« Diesmal war es ein freudiger Aufschrei. »Es geht! Siehst du?«
»Ich wusste, dass du es kannst, mein Sohn! Gut gemacht!« In einem weiten Bogen flog sein Vater davon; bis auf die tiefbraunen Spitzen der Handschwingen waren seine Flügel vollkommen schwarz. Für eine Sekunde stellte er sich gegen den Wind, bevor er in den nächsten Aufwind glitt und in Kreisen zurück zu ihrem Atoll flog. Jason machte es ihm nach und stellte fest, dass es überhaupt nicht schwer war, wenn er tat, was sein Vater ihm beigebracht hatte: zuerst nachzudenken.
»Effizientes Fliegen hat genauso viel mit klugen Entscheidungen wie mit schierer Kraft zu tun.«
Jetzt traf Jason die bewusste Entscheidung, seinen Flugwinkel zu verändern, als er erkannte, dass sein Vater durch seine Körpergröße einen Vorteil hatte … und es funktionierte! Auf einmal hatte er das Gefühl, dass der Wind ihn trug. Er konnte es nicht erwarten, es seiner Mutter zu zeigen, und als er in der Ferne das helle Violett ihrer Tunika sah, in der sie ihnen entgegenflog, da bemühte er sich, noch schneller zu fliegen. Blauschwarz schimmerten seine Flügel im Sonnenlicht. Sein Vater fand, Jason sei dazu bestimmt, ein Nachtkundschafter zu werden, so wie er selbst es in seiner Jugend gewesen war, ehe er sich seiner Leidenschaft für Musik und die Instrumente, die sie hervorbrachten, gewidmet hatte.
Jason fragte sich, wann er nachts würde allein fliegen dürfen. Er dachte, es würde ihm gefallen, den Sternen nachzujagen. Aber nach einiger Zeit wurde es sicher einsam dort oben. Kalt und einsam.
8
Raphael stand auf dem geländerlosen Balkon vor seinem Büro im Turm und dachte über den Bericht nach, den er gerade von Naasir erhalten hatte. Der Vampir war zurzeit in der einst verloren gegangenen Stadt Amanat stationiert, die in einer gebirgigen Region Japans zu neuem Leben erwachte. Die Herrscherin über diese Stadt war Raphaels Mutter, ebenfalls ein Erzengel und so alt, dass sie wahrhaft zu den Uralten zählte.
Das Erwachen von Amanat geht immer schneller voran, sagte er zu der Frau, deren Haar so hell wie Weißgold war. In ihren Strähnen fingen sich die Lichter der umliegenden Wolkenkratzer, als sie in einem Zickzackmuster in der Nähe des Turms hin und her flog.
Das hatten wir erwartet. Elena tauchte nach links ab. Gib mir eine Sekunde. Ransom hat mich gebeten, ihm beim Aufspüren eines lästigen Vampirs zu hel… – hab ich dich!
Mit seinem raubvogelscharfen Blick sah er, wie sie in ein Handy sprach, und konnte die Woge ihres Hochgefühls spüren, als der Jäger am Boden den Fang
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