Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
machte. Ein Engelsgemahl war etwas sehr Seltenes. Außer auf Elena traf dieser Titel eigentlich nur noch auf Elias’ Partnerin Hanna zu. Selbst Eris, der vor seinem Tod aus Höflichkeit als solcher bezeichnet worden war, hatte keine vergleichbare Position bekleidet wie die der beiden Frauen. Was nicht bedeuten sollte, dass Hanna und Elena aus dem gleichen Holz geschnitzt wären. Im Gegenteil, in ihrem Temperament und ihren Ansichten über die Welt unterschieden sie sich wie Feuer und Wasser.
Von diesen beiden war Raphaels Gemahlin diejenige, die wahrhaftig als ganz einzigartiges Wesen galt.
»Warum arbeitet sie weiterhin für die Gilde?«, hatte Favashi ihn bei ihrer letzten Begegnung gefragt, und in ihrer Stimme hatte echte Verwirrung gelegen. »Ist sie sich ihrer ehrenvollen Position nicht bewusst?«
Favashi findet, als ordentliche Gemahlin solltest du deine Vorliebe für die Vampirjagd aufgeben und stets an meiner Seite sein.
Nichts gegen Favashi – die im Vergleich zur Zombimacherin Lijuan recht anständig wirkt –, aber sie hat keine Ahnung davon, wie wir arbeiten.
Raphaels Mundwinkel hoben sich. »Stimmt.« Er umfing die Taille seiner Gemahlin und fing sie auf, als sie mit rasanter Geschwindigkeit zur Landung ansetzte. »Bei dem Tempo hättest du dir wahrscheinlich den Schädel eingeschlagen, wie du es sagen würdest.«
»Ich bin nur so schnell geflogen, weil ich wusste, dass du mich auffangen würdest.«
Er war ein Wesen von unglaublicher Macht, das seit anderthalb Millennien lebte, und doch brachte sie es mit so einfachen Worten fertig, ihm den Atem zu rauben, denn ihr Vertrauen in ihn glich einem geschliffenen, strahlenden Juwel. Er hob die Hand und ließ sie über die Wölbung ihres linken Flügels gleiten, eine höchst empfindliche Stelle. Ein hauchzartes Zittern überlief Elena, und das helle Grau ihrer Augen wurde rauchig. Im Dunkel der Nacht leuchtete der wachsende Ring aus purem Silber um ihre Iriden.
»Also«, sagte sie mit einem Seufzen voll tiefer, durchdringender Lust, »was, glaubst du, wird deine Mutter als Nächstes tun?«
»Ich weiß es noch nicht.« Caliane war ein unbekannter Faktor, mit dem niemand gerechnet hatte – am allerwenigsten ihr Sohn, den sie vor langer Zeit schwer verletzt und blutend auf einem Feld weit abseits jeder Zivilisation zurückgelassen hatte. »Bei ihrem Erwachen hatte sie keinerlei Bestreben, über etwas anderes als Amanat zu herrschen, aber sie heilt und gewinnt ihre Kräfte zurück. Und im Kader gibt es eine freie Stelle.«
Der Kader der Zehn trug diesen Namen schon seit dem Beginn der Geschichtsschreibung der Engel. Selbst wenn über einen Zeitraum von hundert oder zweihundert Jahren ein Mitglied fehlte, bis ein neuer Erzengel seine Macht erlangte, und währenddessen nur neun herrschten, wurde der Name nicht geändert. Solche Lücken waren im Leben eines Unsterblichen nicht weiter bemerkenswert. Die momentan freie Stelle bestand demnach erst seit einem Wimpernschlag, da Urams Hinrichtung noch keine zwei Jahre zurücklag.
»Calianes Rückkehr droht die Machstruktur der Welt aus dem Gleichgewicht zu bringen.« Zwar hatte es Zeiten gegeben, in denen die Anzahl der Erzengel bis auf sieben gesunken war, aber überschritten hatten sie die Zehn nie. Dieses natürliche Gleichgewicht sorgte für ausreichende Pufferzonen zwischen den größten Raubtieren des Planeten. »Es gibt jemanden, der kurz davor ist, in den Rang eines Erzengels aufzusteigen …«
»Mit kurz davor meinst du …?«, fragte Elena, und rief ihm damit in Erinnerung, wie gefährlich nahe sie der Sterblichkeit noch war, denn die Gabe der Unsterblichkeit brauchte Zeit, um zu wachsen und Wurzeln zu schlagen.
»Ein Jahrzehnt, ein Jahrhundert.« Er drehte ihr Gesicht zur Seite, um einen blauen Fleck zu begutachten, den sie in ihrem Trainingskampf vor ein paar Stunden davongetragen hatte. »Auf dieser Stufe der Macht ist es nicht vorhersagbar.«
»Also haben wir Zeit, eine Lösung zu finden.« Sie schlang die Arme um seinen Leib und richtete den Blick auf ihr geliebtes Manhattan. »Und es ist ja nicht so, dass irgendjemand Caliane aufhalten könnte, wenn sie wieder herrschen wollte.«
Nein. Dafür war seine Mutter zu mächtig. Außerdem war sie wahnsinnig gewesen, als sie sich in ihren jahrhundertelangen Schlaf begeben hatte. Jetzt behauptete sie ihm gegenüber, geistig gesund zu sein, und ihre Handlungen schienen das zu bestätigen – aber Raphael wusste, dass der Wahnsinn bei den Alten eine
Weitere Kostenlose Bücher