Giselles Geheimnis
Sehnsucht wonach? Etwa, sich an ihn zu lehnen?
Das plötzliche Hupen eines Wagens brachte Stefano dazu, seine Gefangene freizugeben. Er stieß sie regelrecht von sich. Was war nur in ihn gefahren? Und was wäre passiert, hätte die Hupe nicht gestört?
Da er für einen Moment scheinbar nur auf die eigenen Fragen konzentriert war, nutzte Giselle die Gelegenheit und hastete zum Lift. Der war glücklicherweise leer. Was ihr auf dem Weg hinauf zu den Büros die Ruhe bot, um ihren hämmernden Puls und ihre wirbelnden Gedanken zur Ordnung zu rufen und sich allein auf den Grund zu konzentrieren, weshalb jeder Mitarbeiter in die Firma bestellt worden war.
Während der letzten zwei Jahre, praktisch seit sie für das renommierte Architekturbüro arbeitete, hatte die Firma ein Großprojekt betreut. Ein russischer Milliardär hatte eine kleine Insel vor der kroatischen Küste in einen luxuriösen Urlaubsort für die Superreichen verwandeln wollen, doch aufgrund der Finanzkrise war das Projekt, sehr zum Unmut der Seniorpartner, vorerst auf Eis gelegt worden. Gestern war scheinbar die Nachricht eingegangen, dass die Insel den Besitzer gewechselt hatte – wieder ein Milliardär, ein erfolgreicher Unternehmer, der die Pläne gesehen hatte und sie nun besprechen wollte.
Daraufhin hatten die Seniorpartner alle, die je mit diesem Projekt zu tun gehabt hatten, ins Büro beordert, in der Hoffnung auf eine Wiederbelebung. Jeder sollte sich bereithalten, falls der neue Eigentümer der Insel Fragen haben sollte. Eine Garantie, dass die Arbeiten wieder aufgenommen werden würden, gab es natürlich nicht. Da das Damoklesschwert möglicher Entlassungen über ihnen schwebte, drückten vor allem die jüngeren Architekten wie Giselle alle Daumen, dass der neue Besitzer von den Plänen angetan sein und grünes Licht geben würde.
Der Aufzug kam an, Giselle trat aus der Kabine und steuerte auf das Großraumbüro zu, das sie sich mit mehreren jungen Kollegen teilte – alles männliche Kollegen und alle fest entschlossen, den Seniorpartnern auf die eine oder andere Weise zu zeigen, dass sie das jeweils Beste in die Firma einbringen konnten.
„Nur die Ruhe“, grüßte Emma Lewis, die Assistentin, die sich alle teilten, als Giselle hektisch in das Vorzimmer platzte. „Das Meeting ist um eine Stunde verschoben worden. Der neue Besitzer ist aufgehalten worden.“
Giselle atmete erleichtert durch. „Gott sei Dank. Ich dachte, ich komme viel zu spät. Ich musste den Wagen nehmen, weil ich am Abend noch eine Vor-Ort-Besichtigung habe. Der Verkehr war tödlich.“
Emma, vierunddreißig, verheiratet mit einem Architekten, der im Moment ein Projekt in Saudi-Arabien leitete, ging mit den Jüngeren im Büro um wie mit ihren eigenen beiden Kindern – sie bemutterte sie verständnisvoll und bemühte sich, sämtliche Streitigkeiten zu schlichten. Die sechsundzwanzigjährige Giselle mochte Emma und war immer dankbar für deren Unterstützung.
„Wo sind denn alle?“, fragte Giselle und beantwortete sich die Frage selbst. „Natürlich …“ Sie stöhnte auf. „Sie arbeiten an ihrer Strategie, wie sie jegliche Verantwortung für mögliche Fehler von sich weisen können und stattdessen im Gegenzug alles Lob für Gelungenes einheimsen.“
Emma lachte amüsiert. „Ja, so etwas in der Art vermute ich auch. Ich hole dir einen Kaffee, und dann erzähle ich dir das Neueste, was ich über unseren potenziellen neuen Klienten herausgefunden habe.“
Giselle nickte stumm, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Wenn Emma eine Schwäche hatte, dann war es der Gesellschaftsklatsch. Sie liebte es, alles über die Schönen und Reichen in den Hochglanzmagazinen nachzulesen. „Das Neueste“ konnte also nur aus diesen zweifelhaften Quellen stammen.
Wenige Minuten später, während Giselle an ihrem Kaffee nippte, bestätigte sich ihr Verdacht.
„Hätte Timmy nicht zum Zahnarzt gemusst, hätte ich es wohl gar nicht entdeckt. Die Zeitschrift war nämlich schon Monate alt. Ich konnte es kaum glauben, als ich die Seite umschlug – und da war er, Stefano Parenti. Mit dem Namen sollte man annehmen, er sei Italiener, nicht wahr? Ist er aber nicht. Offenbar gehört seiner Familie ein eigenes Herzogtum. Es liegt irgendwo gleich bei Kroatien, und sein Cousin ist der Großherzog. Sein Vermögen – ich meine Stefano Parentis – hat aber nichts damit zu tun, dass sein Cousin der Großherzog ist. Sein Vater hatte schon immer Geschäfte mit dem Mittleren Osten
Weitere Kostenlose Bücher