GK0134 - Die Drachenburg
Einen Atemzug später hörte sie ein heiseres Gekrächze.
Sandra lächelte und atmete auf. Eine Krähe oder ein Rabe war in die Schlucht geflogen und hatte sie so erschreckt.
Dieser Vogel war das erste Lebewesen, das Sandra auf der Dracheninsel entdeckte, obwohl die ringsum liegenden Inseln als Vogelparadies galten. Doch hier auf der Dracheninsel schien alles anders zu sein. Spürten die Tiere etwa die Drohung, die von diesem Eiland ausging? Waren sie nicht sensibler als Menschen, die oft über den Warnsignalen der Natur keine Beachtung schenkten?
Sandra Lee ging weiter, drang immer tiefer in die enge Schlucht hinein, die kein Ende zu nehmen schien.
Sandra beschleunigte ihre Schritte. Endlich – nach etwa einer halben Stunde – tauchte das Ende der Schlucht auf.
Sandra lief schneller – und stand plötzlich vor einem grandiosen Panorama.
Ein kleines Tal breitete sich vor ihr aus, umgeben von wuchtigen Felstürmen, deren schroffe Grate riesigen Bastionen glichen. Die letzten Sonnenstrahlen wurden wie glitzernde lange Speere von Westen her in das Tal geworfen und Übergossen die üppige Vegetation mit goldenem Schein.
Ein kleiner See lag still und verlassen vor Sandras erstauntem Blick. Seine Oberfläche war dunkel, fast schwarz und zeugte von einer unergründlichen Tiefe. Birken, Kiefern und Fichten wuchsen bis an die Felswände heran und bildeten einen natürlichen, sattgrünen Wall.
Doch kein Tier, kein einziges Lebewesen war zu sehen. Über der Landschaft lag eine unnatürliche, beinahe drohende Stille.
Sandra glaubte, ihren eigenen Herzschlag hören zu können, und wußte mit einemmal, daß sie nicht mehr weit von ihrem eigentlichen Ziel entfernt war.
Schritt für Schritt ging sie weiter, betrat den federnden Grasboden, dessen Halme sich unter ihren Sohlen bogen.
Sandras Blicke wanderten an den majestätischen Felswänden hoch, und plötzlich zogen sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
Über der höchsten Erhebung lag ein dichter Nebelring!
Verbarg sich dort die Drachenburg? Hatte sie das sagenumwobene Gemäuer endlich gefunden?
Die langen Schatten der Dämmerung krochen stetig und unaufhaltsam in das kleine Tal und umhüllten alles mit einem dunklen Schleier.
Sandra Lee ging schneller. Sie wollte die Drachenburg noch vor der Dunkelheit erreichen.
Schnell hatte sie das Tal durchquert und stand schließlich vor der Felswand, deren Spitze von dem geheimnisvollen Nebelschweif vor ihren Blicken verhüllt wurde.
Wie konnte sie diese Höhe überwinden? Es war unmöglich, die steile Wand hinaufzuklettern. Sandra schob einige Zweige eines Strauches zur Seite, und plötzlich begannen ihre Augen zu glänzen.
Sie hatte eine schmale Treppe gefunden!
Die einzelnen Stufen waren ziemlich hoch und führten in einer geraden Linie den Berg hinauf.
Wer hatte diese Treppe in den Fels gehauen?
Sie schien schon uralt zu sein. Das Gestein war teilweise verwittert, und Sandra hatte Angst, daß die Stufen ihr Gewicht nicht halten würden. Doch sie schüttelte das beklemmende Gefühl ab und machte sich an den Aufstieg.
Die junge Studentin zählte die Stufen nicht, die sie hinaufstieg, doch schon bald spürte sie ihre Beine nicht mehr; Der Weg vorher war im Vergleich zu diesem Treppensteigen ein Kinderspiel gewesen.
Sandra sah nicht ein einziges Mal zurück, aus Angst, sie könnte das Gleichgewicht verlieren und abstürzen.
Sie wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als sie die erste Pause einlegen mußte.
Sandra Lee ließ sich kurzerhand auf eine Stufe sinken und schlug die Hände vors Gesicht. Die Dunkelheit hatte das Land jetzt völlig zugedeckt, und Sandra dachte mit Schrecken an den Rückweg. Was war, wenn sie die Drachenburg nicht fand? Dann mußte sie die Treppenstufen in der Finsternis zurücklaufen. Ein lebensgefährliches Unterfangen. Und jetzt bereute Sandra, daß sie allein auf diese Insel gekommen war. Sie hätte doch lieber in London bleiben oder wenigstens jemand mitnehmen sollen. So aber war sie völlig auf sich allein gestellt.
Sandra stand auf und ging weiter. Stufe für Stufe näherte sie sich ihrem eigentlichen Ziel.
Einmal blieb sie stehen und hob den Blick.
Ein rotviolettes Licht schimmerte ihr entgegen, gedämpft durch einen verwaschenen Nebelschleier.
Das Licht war gar nicht soweit entfernt. Sandra hatte das Gefühl, es mit den Händen greifen zu können.
Sie ging weiter. Erregung hatte sie gepackt. Sie sah sich schon am Ziel ihrer Wünsche.
Die ersten Nebelschleier
Weitere Kostenlose Bücher