GK231 - Der Herr der Ratten
wenige Augenblicke lang.
Er fiel über Bord und versank in den schwarzen Fluten.
Nun hatte Lago ein Boot, mit dem er zu seiner geliebten Insel zurückkehren konnte.
***
Er hätte seine Insel beinahe nicht wiedererkannt.
Man hatte in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit häßliche Bunkerklötze gebaut und Stahlträger errichtet, um später zu sehen, mit welcher Kraft die zerstörerische Druckwelle der Atombomben über das Eiland hinweggerast war. Mit einem Wutgeheul lief er den Strand entlang.
Er schrie und tobte so lange, bis er kraftlos in den Sand sank.
Da blieb er schluchzend liegen. Seine Insel. Sie war entstellt und geschändet worden, doch das alles sollte nichts gegen das sein, was Amerika dem Eniwetok-Atoll noch alles antun wollte.
Erschöpft richtete sich Lago auf.
Er brüllte Asmodis’ Namen mit vollen Lungen heraus. »Herr, was immer sie meiner Insel antun, laß mich hierbleiben! Laß mich überleben! Damit ich an diesen Barbaren Rache nehmen kann, wenn sie eines Tages hierher zurückkehren werden!«
Plötzlich bebte die Erde unter Lago.
»Herr des Todes und der Finsternis, gib mir die Möglichkeit, mich an diesen Vandalen zu rächen!«
Das Beben wurde heftiger. Es griff auf Lago über und schüttelte ihn so wild, daß er umkippte, und eine Stimme donnerte über ihm: »Ich werde ein Versteck für dich schaffen, in das du dich verkriechen kannst. Da wirst du die Zeit verbringen, die bis zum Tage deiner Rache verstreichen wird. Wenn diese Zeit um ist, wirst du hervorkommen wie Phönix aus der Asche, und du wirst jenen den Tod bringen, die du von ganzem Herzen haßt!«
Krachend spaltete sich die Erde.
Lago stürzte, aber er erschrak darüber nicht, denn es war Asmodis’ Wille. Er schrie seine Freude heraus, während er mit den Armen ungestüm um sich schlug. Eine dunkelrote Feuerwoge schwappte ihm entgegen. Er landete auf ihr wie auf einem riesigen Daunenkissen.
Sie versengte ihn nicht. Er spürte keinen Schmerz, war erfüllt von einem nicht enden wollenden Taumel der Begeisterung.
Langsam schloß sich die Erde über ihm.
Lago sah ein letztes Mal den kobaltblauen Himmel über Yvonne, und dann breitete sich der Kokon der Zeit über ihn, spann ihn in sich ein und beschützte ihn vor dem, was auf der kleinen Südseeinsel folgte.
***
Dreiundvierzigmal stiegen auf dem Eniwetok-Atoll in den Jahren 1948 bis 1958 die Explosionspilze von Atom- und Wasserstoffbomben hoch. Die gewaltigen Druckwellen fegten Kokospalmen hinweg, verschoben die zu Versuchszwecken errichteten Betongebäude meterweit, knickten Eisenträger, verursachten riesige Flutwellen, die über die flachen, idyllischen Koralleninseln tosend hinwegrollten.
Und sie verstrahlten den Sand und das Wasser, die Pflanzen und die rostenden Relikte aus dem Zweiten Weltkrieg.
Wer heute einen Blick auf die Inseln wirft, trifft dieses Bild an: Toiletten und Waschbeckenränder sind von Moosschichten überzogen. Flaschen mit eingetrocknetem Ketchup und verschimmelten Servietten liegen auf dem Boden. Das muß eine Kantine gewesen sein.
In der Kirche nebenan ist das hölzerne Kanzelpult zusammengekracht. Ein Krebs krabbelt durch die Sakristei. Dort, wo einst der Kommandant residiert hat, stapeln sich Formulare für Materialanforderungen in den Regalen. Pläne für Erweiterungsbauten verstaubten, ein Telefonbuch mit Geheimnummern liegt offen herum.
An der Wandtafel steht noch ein halbes Dutzend Codenamen: Holly, Butternut, Eider, Maple, Bogwood, Olive – es sind die Namen von Atom- und Wasserstoffbomben, die auf dem Eniwetok-Atoll noch explodieren sollten.
Es wären die Nummern 44 bis 49 gewesen.
Doch bei Nummer 43 hatte man schließlich Schluß gemacht. Seit zwei Jahrzehnten rotten und rosten Wellblechbaracken und Computergebäude im feuchtheißen Salzklima vor sich hin.
So sieht es auf Medren – einer der 40 Inseln des Atolls – heute aus.
Zehntausend Amerikaner haben hier einmal gearbeitet.
Heute ist Medren eine technologische Geisterinsel.
Doch drüben, auf der Nachbarinsel Yvonne, regt sich – 19 Jahre nach der letzten Testbombe – wieder erstes Leben…
***
Drei Männer in weißen Schutzanzügen kletterten auf einem halben Dutzend Schiffswracks herum – ehemaligen Landungsbooten der US-Marine. Sie tasteten sich an den häßlichen Bunkerklötzen entlang, Zentimeter für Zentimeter, immer den Geigerzähler in der Hand.
Aus dem Korallengrund ragten Stahlträger, die aussahen, als habe sie ein furchtbarer Sturm, der stärker war als
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