GK446 - Der Geisterhenker
Schritt wagte er mehr zu tun.
Gebannt starrte er auf das Podium, das mitten auf dem Weg stand. Es war von durchscheinenden Gestalten umgeben, die Oliver den Rücken zukehrten. Sie schauten alle zu, was auf dem Podium geschah.
Ein Galgen war darauf errichtet.
Unter der im Wind baumelnden Schlinge stand ein blutrot gekleideter Henker, dessen obere Gesichtshälfte von einer Maske verdeckt war. Ein dicker Gürtel mit breiter Schnalle war um seine Leibesmitte geschlungen.
Zwei Henkersknechte, die so gekleidet waren wie er, schleppten einen verzweifelten Delinquenten herbei. Der Mann war gefesselt. Er weinte. Glitzernde Tränen rannen ihm über das Gesicht. Niemand hatte jedoch Erbarmen mit ihm. Er blickte um Hilfe bettelnd zu Oliver Kirste herüber, doch der Junge war außerstande, irgend etwas zu tun.
Er war zum Zusehen verurteilt, und das war schlimm, sehr schlimm.
Eiskalt legte der Henker dem Delinquenten die Schlinge um den Hals. Für ihn war das eine selbstverständliche Arbeit, die ihm flott von der Hand ging. Er zog die Schlinge zu und richtete sie so, damit der Mann auf der Falltür mit Sicherheit und so schnell wie möglich vom Diesseits ins Jenseits befördert wurde.
Oliver brach der kalte Schweiß aus allen Poren.
Du kannst dabei nicht einfach Zusehen! sagte eine innere Stimme zu ihm. Tu etwas! Dieser Mann ist unschuldig! Er darf nicht hingerichtet werden!
Er wollte dem unbekannten Mann helfen, aber er schaffte es nicht, sich von der Stelle zu rühren. Flehend schaute der Delinquent ihn an, als ob er nur von ihm Hilfe erwarten konnte, aber Oliver Kirste rührte sich nicht.
Der Henker trat zurück.
Er gab einem seiner Knechte ein Zeichen.
Die Falltür öffnete sich, und der Delinquent fiel. Der Strick spannte sich. Die Schlinge zog sich mit einem blitzschnellen Ruck zusammen.
Oliver drehte es den Magen um.
Er sah, wie sich die durchscheinenden Gestalten vom Galgen abwandten und fortgingen. Die Hinrichtung war vorbei. Es gab nichts mehr zu sehen. Auch der Geisterhenker und seine Schergen waren verschwunden.
Zurückgeblieben war ein Gehenkter, der am Galgen hing und langsam hin und her pendelte…
***
Humphrey Cord stach zu, und mir war klar, daß ich verloren war. Was für ein Hohn des Schicksals. Jahrelang trotzte ich den mannigfaltigsten Gefahren, die aus der Hölle kamen, und dann wurde ich das Opfer zweier rauschgiftsüchtiger Räuber. Ich unternahm einen allerletzten Befreiungsversuch, der jedoch scheiterte.
Und dann traf mich die Klinge des Springmessers voll.
Ich preßte unwillkürlich die Lippen zusammen und verzog das Gesicht in Erwartung eines heftigen Schmerzes. Aber es kam kein Schmerz. Nur ein harter Schlag. Und die Klinge drang mir nicht in die Brust, sondern zerbrach. Darüber war ich ebenso verblüfft wie Humphrey Cord. Er starrte entgeistert auf das Heft in seiner Hand.
Die Klinge war nicht etwa an einer meiner Rippen zerbrochen, sondern an meinem Körper, durch dessen Haut sie nicht zu dringen vermochte. Was mochte das zu bedeuten haben? Zuerst hatte ich Ronald Farradines Tritt nicht gespürt, und nun hatte es Cord nicht geschafft, mir sein Messer ins Herz zu stoßen. War ich denn auf einmal unverwundbar geworden?
Cord und Farradine ließen augenblicklich von mir ab und suchten das Weite. Ich hob die zurückgebliebene Klinge auf und sah sie mir genau an. Es war harter Stahl. Wieso hatte er mich nicht verletzt? Ich setzte mir die Spitze probeweise selbst an die Brust und hatte das Gefühl, gegen eine dicke Hornhaut zu drücken.
Ohne mir das erklären zu können, warf ich die Klinge weg, schloß meinen Wagen auf und fuhr nach Hause. In Paddington bog ich in die Chichester Road ein. Wenig später stoppte ich mein Fahrzeug in der Garage.
Im Living-room goß ich mir einen Pernod ein, setzte mich mit dem Glas und war immer noch sprachlos.
Was war los mit mir?
War ich auf einmal nicht mehr Tony Ballard? Der Mensch, der so verletzbar war wie alle anderen Menschen - war ich das nicht mehr? Wer hatte den anderen Tony Ballard aus mir gemacht? Wieso hatte ich nichts davon gemerkt? Ich trank. Nachdem mein Glas leer war, zog ich mein Hemd aus. Es hatte ein kleines Loch. Ich warf es in den Korb für die Schmutzwäsche und betrachtete mich im Wandspiegel. Dabei komite ich nichts Besonderes an mir feststellen. Ich hatte mich optisch nicht verändert, sah so aus wie immer, und doch war ich nicht mehr derselbe.
Freunde, ich kann nicht sagen, wie mich das beunruhigte.
Es schellte an der
Weitere Kostenlose Bücher