Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
die äußeren Formen des Mannes. Sie gleichen dem literarischen Kritiker von heute, der sich in mancher Hinsicht mit ihnen vergleichen läßt und der zu einer großen Unbekümmertheit um die Kunstformen gelangt: er hat so viele Werke gelesen, er sieht ihrer so viele an sich vorüberziehen, er hat sich so sehr an geschriebene Seiten gewöhnt, er hat so viele Entwicklungen erfahren, so viele Dramen gesehen, er hat so viele Artikel geschrieben, ohne auszusprechen, was er dachte, er hat so oft die Sache der Kunst zugunsten seiner Freundschaften und Feindschaften verraten, daß er zum Ekel vor allem kommt; und doch übt er sein Richteramt weiter aus. Es bedarf eines Wunders, damit ein solcher Schriftsteller ein Werk hervorbringt, genau wie die reine und edle Liebe eines andern Wunders bedarf, um im Herzen einer Kurtisane aufzublühen. Der Ton und die Manieren dieses Priesters, der wie aus einer Leinwand Zurbarans hervorgetreten war, schienen diesem armen Mädchen, dem die Form wenig ausmachte, so feindselig, daß sie sich weniger wie der Gegenstand der Besorgnis vorkam, als vielmehr wie das für einen Plan notwendige Werkzeug. Ohne zwischen dem Schmeicheln des persönlichen Interesses und der Salbung der Wohltätigkeit unterscheiden zu können – denn man muß wohl auf der Hut sein, um das falsche Geld zu erkennen, das ein Freund gibt –, fühlte sie sich doch gleichsam zwischen den Fängen eines ungeheuren wilden Vogels, der sie lange umschwebt hatte und schließlich auf sie gestürzt war; und in ihrem Schrecken sagte sie mit beängstigter Stimme die Worte: »Ich glaubte, die Priester hätten die Aufgabe, uns zu trösten; – und Sie ermorden mich!«
Bei diesem Schrei der Unschuld entschlüpfte dem Geistlichen eine Bewegung, und er machte eine Pause; er sammelte sich, ehe er fortfuhr. Während dieser Sekunde sahen die beiden so sonderbar zusammengeführten Personen sich verstohlen prüfend an. Der Priester begriff das Mädchen, ohne daß das Mädchen den Priester begreifen konnte. Er verzichtete ohne Zweifel auf einen Plan, der die arme Esther bedrohte, und wandte sich zu seinen ersten Gedanken zurück.
»Wir sind die Ärzte der Seelen,« sagte er mit sanfter Stimme, »und wir wissen, welche Arzneien für ihre Krankheiten passen.« »Sie müssen dem Elend vieles vergeben,« sagte Esther. Sie glaubte sich getäuscht zu haben, glitt von ihrem Bett hinunter, warf sich diesem Menschen zu Füßen, küßte in tiefer Demut seine Soutane und hob von Tränen schwimmende Augen zu ihm auf, »Ich glaubte schon viel getan zu haben,« sagte sie. »Hören Sie, liebes Kind: Ihr arger Ruf hat Luciens Familie in Trauer gestürzt: man fürchtet, und nicht ohne Berechtigung, daß Sie ihn in die Zerstreuung hineinreißen werden, in eine Welt der Torheiten ...« »Das ist wahr; ich hatte ihn auf den Ball geführt, um ihn zu necken.« »Sie sind schön genug, damit er durch Sie in den Augen der Welt triumphieren, Sie voll Stolz zeigen und gleichsam ein Paradepferd aus Ihnen machen will. Wenn er nur sein Geld ausgäbe! ... Aber er wird seine Zeit und seine Kraft ausgeben; er wird den Geschmack an dem schönen Lose verlieren, das man ihm bereiten will. Statt eines Tages als Gesandter reich, bewundert und glorreich dazustehen, wird er wie so viele jener Wüstlinge, die ihr Talent im Pariser Schmutz ertränkten, der Liebhaber einer unreinen Frau gewesen sein. Sie selber werden später Ihr erstes Leben wieder aufnehmen, nachdem Sie einen Augenblick in eine Sphäre der Eleganz emporgestiegen waren; denn Sie haben nicht die Kraft in sich, die eine gute Erziehung verleiht, dem Laster zu widerstehen und an die Zukunft zu denken. Sie werden so wenig mit Ihren Gefährtinnen brechen, wie Sie mit den Leuten gebrochen haben, die heute morgen in der Oper Sie beschämten. Die wahren Freunde Luciens haben, erschreckt durch die Liebe, die Sie ihm einflößen, seine Schritte verfolgt und alles erfahren. Voller Angst haben sie mich zu Ihnen geschickt, um Sie zu sondieren und über Ihr Schicksal zu entscheiden; aber wenn sie auch mächtig genug sind, um diesem jungen Manne einen Stein des Anstoßes aus dem Wege zu räumen, so sind sie doch auch barmherzig. Erfahren Sie es, meine Tochter: ein Wesen, das Lucien liebt, hat Anspruch auf ihre Achtung, wie ein echter Christ noch den Kot anbetet, in dem vielleicht ein göttliches Licht erstrahlt. Ich bin gekommen, um mich zum Werkzeug des wohltätigen Gedankens zu machen; aber hätte ich Sie ganz verderbt gefunden,
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