Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
die Kraft gegeben, das Freudenmädchen so tief zu vergraben, daß es nicht wieder aufgetaucht wäre; es taucht noch in der Anbetung auf, die nur Gott gebührt.« »Hat er Sie nicht zu mir geschickt?« fragte sie. »Wenn Sie während Ihrer Erziehung von Lucien bemerkt würden, so wäre alles verloren,« fuhr er fort, »bedenken Sie das.« »Wer wird ihn trösten?« fragte sie. »Worüber haben Sie ihn hinweggetröstet?« fragte der Priester mit einer Stimme, in der zum erstenmal während dieser Szene ein nervöses Zittern durchklang. »Ich weiß es nicht; er war oft traurig, wenn er kam.« »Traurig?« sagte der Priester; »hat er Ihnen gesagt, worüber?« »Nie,« erwiderte sie. »Er war traurig, weil er ein Mädchen wie Sie liebte!« rief er. »Ach, er mußte es wohl sein,« erwiderte sie in tiefer Demut; »ich bin das verächtlichste Geschöpf meines Geschlechts, und ich konnte vor seinen Augen nur durch die Kraft meiner Liebe Gnade finden.« »Diese Liebe muß Ihnen den Mut geben, mir blind zu gehorchen. Wenn ich Sie auf der Stelle in das Haus führte, in dem Ihre Erziehung stattfinden soll, so würde hier jeder zu Lucien sagen, Sie seien heute, am Sonntag, mit einem Priester davongegangen; er könnte auf Ihre Spur geraten. In acht Tagen wird die Pförtnerin mich, da sie mich nicht wiederkommen sieht, für etwas halten, was ich nicht bin. Also werden Sie eines Abends – sagen wir, heute in acht Tagen – um sieben Uhr verstohlen hinausgehen und in einen Fiaker steigen, der unten in der Rue des Frondeurs auf Sie warten wird. Während dieser acht Tage werden Sie Lucien meiden; finden Sie Vorwände, lassen Sie ihm die Tür verbieten, und wenn er kommt, so steigen Sie zu einer Freundin hinauf; ich werde es erfahren, wenn Sie ihn wiedergesehen haben, und in diesem Fall wäre alles aus, ich würde nicht einmal wiederkommen. Diese acht Tage sind notwendig, damit Sie sich eine anständige Aussteuer verschaffen und Ihre Prostituiertenmiene ablegen,« sagte er, indem er eine Börse auf den Kamin legte. »In Ihrer Miene und Ihren Kleidern liegt jenes Etwas, das die Pariser so genau kennen und das ihnen sagt, was Sie sind. Sind Sie nie auf der Straße, auf den Boulevards einem bescheidenen und tugendhaften jungen Mädchen begegnet, das in Gesellschaft seiner Mutter war?« »O ja, zu meinem Unglück. Der Anblick einer Mutter mit ihrer Tochter gehört zu unsern schlimmsten Foltern; er weckt die Gewissensbisse, die in den innersten Falten unseres Herzens verborgen sind und die an uns zehren! ... Ich weiß nur zu gut, was mir fehlt.« »Nun also wissen Sie, wie Sie nächsten Sonntag aussehen müssen,« sagte der Priester, indem er aufstand. »O lehren Sie mich«, sagte sie, »ein echtes Gebet, ehe Sie gehen, damit ich Gott anflehen kann.«
Es war rührend anzusehen, als dieser Priester dieses Mädchen das Ave-Maria und das Paternoster auf französisch hersagen ließ.
»Das ist herrlich!« sagte Esther, als sie diese beiden wunderbaren und beliebten Ausdrücke des katholischen Glaubens fehlerlos gesprochen hatte. »Wie heißen Sie?« fragte sie den Priester, als sie ihm Lebwohl sagte. »Carlos Herrera; ich bin Spanier und aus meinem Lande verbannt.« Esther ergriff seine Hand und küßte sie. Es war keine Kurtisane mehr, sondern ein Engel, der von einem Sturz aufstand.
In einem Hause, das wegen der aristokratischen und religiösen Erziehung, die dort erteilt wird, berühmt ist, bemerkten die Pensionärinnen im März des Jahres eines Montags morgens, daß ihre hübsche Schar um einen Ankömmling vermehrt war, dessen Schönheit nicht nur unbestreitbar über ihre Gefährtinnen triumphierte, sondern auch über die einzelnen Schönheiten, die eine jede von ihnen in vollkommenem Grade besaß. In Frankreich ist es äußerst selten, um nicht zu sagen unmöglich, daß man die berühmten dreißig Schönheiten beisammen findet, die, wie man sagt, eine in persischen Versen im Serail eingemeißelte Inschrift aufzählt und die notwendig sind, damit eine Frau vollkommen schön sei. In Frankreich gibt es wenig Gesamtschönheiten; es gibt nur entzückende Einzelheiten. Was die imponierende Gesamtschönheit angeht, wie die Skulptur sie wiederzugeben sucht und wie sie sie auch in einigen seltenen Schöpfungen, zum Beispiel der Diana und der Kallipyga, wiedergegeben hat, so ist sie das Vorrecht Griechenlands und Kleinasiens. Esther entstammte dieser Wiege des Menschengeschlechts, dieser Heimat der Schönheit: ihre Mutter war Jüdin. Die Juden
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